Die Philosophie von Hans-Georg Gadamer und die philosophische Hermeneutik

Einführung in Die Moderne Philosophie - 2024



Die Philosophie von Hans-Georg Gadamer und die philosophische Hermeneutik

Allgemeine Charakteristik der hermeneutischen Philosophie
Hans-Georg Gadamer ist der Begründer der philosophischen Hermeneutik. Die Hermeneutik entwickelte sich als Theorie über die Voraussetzungen, Möglichkeiten und Besonderheiten des Verstehensprozesses. Der Begriff “Hermeneutik“ stammt vom griechischen “hermeneia“, was “Deutung“ bedeutet, und steht symbolisch in Verbindung mit dem olympischen Gott Hermes, der in der Mythologie als Erfinder der Sprache und Schrift sowie als Gesandter der Götter galt. Hermes übernahm eine vermittelnde Rolle zwischen den Göttern und den Menschen, zwischen den Lebenden und den Toten, wodurch er das Bindeglied der Vermittlung von Gegensätzen verkörperte. Die Mechanismen des Verstehens zwischen “Ich“ und “Ich-anderen“ drücken die Formen der vermittelten Beziehung in der interpersonalen Kommunikation aus.

Die Traditionen der Hermeneutik wurden bereits im Mittelalter bei der Auslegung biblischer Texte begründet und trugen zur Erklärung und Deutung von Texten bei. Sie bildeten auch die Grundlage für die Übersetzung von Texten aus der Sprache einer Epoche in die Sprache einer anderen Epoche.

Die Grundlagen der Hermeneutik als allgemeiner Theorie des Verstehens wurden von Friedrich Schleiermacher (1768—1834) gelegt, der zwischen zwei Aspekten des Textes unterschied: dem objektiv-inhaltlichen und dem individuell-persönlichen. Der Inhalt des Textes, also das, was beschrieben wurde, wurde dem Ausdruck des Textes gegenübergestellt, also der Art und Weise, wie das Ereignis beschrieben wurde, den stilistischen Eigenheiten und der Betonung im Text. Das Wesentliche in der Hermeneutik, so Schleiermacher, sei es nicht, den in Gedanken ausgedrückten Gegenstand zu verstehen, sondern die denkenden Individuen zu verstehen, die diesen oder jenen Text geschaffen haben. Dieser Aspekt erhielt die Bezeichnung “ausdrücklicher“ und war lange Zeit der eigentliche Gegenstand des Verstehens und der Deutung.

Heute wird der Begriff “Text“ in der Hermeneutik weit gefasst: von der schriftlichen Form innerhalb der natürlichen Sprache bis hin zur Aufzeichnung von Texten in jeder Zeichensystematik, von der Form des gesprochenen Wortes bis zum Ausdruck von Gefühlen und Emotionen, die in Form von Ausrufen (Interjektionen) geäußert werden.

Das Thema der Hermeneutik sind die Phänomene des Verstehens, die den geistig-praktischen Situationen des Menschen im Weltzusammenhang zugrunde liegen. Die hermeneutischen Phänomene, deren Einfluss deutlich von der phänomenologischen Philosophie Edmund Husserls zu erkennen ist, werden als wesentliche und fundamentale Zustände des menschlichen Seins betrachtet. Der Begriff der “Sinnproduktion“, ein weiteres Konzept Husserls, wird aktiv verwendet.

Sinnproduktion oder Sinnbildung wird als die Realisierung des Sinns des menschlichen Lebens und Handelns in konkreten Situationen und Ereignissen, in persönlichen Akten oder zwischenmenschlichen Beziehungen qualifiziert. Die These von Martin Heidegger über die Hermeneutik des Seins trug dazu bei, in den hermeneutischen Phänomenen nicht nur nebensächliche Lebensfakten oder den Hintergrund menschlicher Aktivitäten zu sehen, sondern die fundamentalen Grundlagen des Seins zu erkennen.

Die Hermeneutik interessiert sich für den Menschen, der nicht nur in der objektiven Welt lebt, sondern vor allem im Raum der Geschichte und Kultur, in einer Welt sozial-historischer Werte und persönlicher Sinnzusammenhänge. Um den Menschen zu verstehen, muss man die Bedingungen seines Lebens, seine Bräuche, Gedanken und erlangtes Wissen sowie die Künste, die er anstrebt, und die tiefen Grundlagen seiner Wünsche und Bestrebungen verstehen; man muss das Individuelle im semantischen Feld sozial-historischer Werte und Werte einer bestimmten Kultur finden.

Die Besonderheit der Hermeneutik liegt in der Herstellung einer Verbindung und einer bestimmten Beziehung — des Verstehens — zwischen zwei Subjekten des Verstehens: dem Interpreten und dem zu interpretierenden Subjekt, die in der Regel verschiedenen Kulturen angehören, und wenn sie derselben Kultur angehören, dann unterschiedlichen persönlichen Orientierungen und Einstellungen. Heute ist allgemein anerkannt, dass ein Charakteristikum der hermeneutischen Phänomene ihre prinzipielle Nichtbeobachtbarkeit ist. Hermeneutische Phänomene können als fundamentale Grundlagen des Lebens einzelner Individuen und als schwer fassbare tiefgründige Grundlagen der Kultur insgesamt qualifiziert werden.

Die Abgrenzung der hermeneutischen Phänomene als ein besonderes Forschungsgebiet ermöglicht es, genetische und funktionale Verbindungen geistiger Erfahrungen des Menschen sowie die grundlegenden Mechanismen der Persönlichkeits- und Kulturentwicklung im Allgemeinen zu erkennen.

Hermeneutische Phänomene entzogen sich oft der Reflexion, besonders der wissenschaftlichen Reflexion, und wurden als “Stimmung des Menschen“, “Ähnlichkeit von Wünschen“ oder, im Gegenteil, als “Gegensatz von Interessen“, “momentane Erleuchtung“, “Intuition“ interpretiert, was im Wesentlichen zu einer Begriffsverwirrung und der Auflösung der hermeneutischen Probleme in den Problemen der Psychologie, Philosophie und Wissenschaft führte.

Die Abgrenzung der philosophischen Hermeneutik als besonderes wissenschaftliches Forschungsgebiet, die durch die Arbeiten von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Wilhelm Dilthey, Martin Heidegger und vor allem Hans-Georg Gadamer, dem Klassiker der Hermeneutik des 20. Jahrhunderts, ermöglicht wurde, hat es gestattet, die Probleme der wissenschaftlichen Modellierung menschlichen Verhaltens und Handelns zu lösen, die spielerischen Methoden der Handlungsorganisation zu untersuchen, die Typologie von Kommunikationsbeziehungen und die soziokulturelle Realität insgesamt zu entwickeln. Hermeneutische Phänomene werden als “Organe des Verstehens“, als “Organisatoren“ des Lebens und Handelns des Menschen und als Grundlage der Axiomatisierung des eigenen Lebens betrachtet.

Der Mensch lebt in einer Welt des Überflusses an Informationen, Schemen und Konzeptualisierungen, wodurch der Bedarf an einer entsprechenden Sprache des Verständnisses, einer zuverlässigen Interpretation des Kontextes und des Subtextes von Äußerungen deutlich steigt. Das Verlangen des Menschen, sich selbst zu verstehen, — aus diesen und ähnlichen Fragen entstand die Hermeneutik.

Die Entstehung der philosophischen Hermeneutik

Die Entwicklung der Hermeneutik vor Gadamer zeigte, dass der Erfolg im Verständnis nur dann möglich ist, wenn die Beziehungen zwischen den Subjekten des Verstehens auf den Regeln des Dialogs und der Kommunikation beruhen. Die größte Schwierigkeit, mit der sich die älteren Hermeneutiker konfrontiert sahen, war die Modernisierung fremder Texte, die Betrachtung der eigenen Perspektive als Maßstab oder, im Gegenteil, das übermäßige Hervorheben der Einzigartigkeit und Selbstständigkeit fremder Texte. Sowohl das eine als auch das andere führte zur Subjektivierung des Verständigungsprozesses und, als Folge, zu Missverständnissen.

Gadamer, der sich in seinen Überlegungen auf Heidegger stützt, schlägt vor, die Hermeneutik nicht als Lehre von den Methoden und Mechanismen des Verstehens, sondern als Lehre vom Sein, als Ontologie zu begreifen. Anfangs, ohne die bestehenden Definitionen der Hermeneutik als Methodologie des Verstehens zu negieren, versucht Gadamer, Heideggers "Sprache" und Hegels "Idee" (Logos) zu synthetisieren und die Hermeneutik als Philosophie zu entwickeln, in der der Ontologie eine wesentliche Rolle zukommt — dem grundlegendsten "philosophischen Stein".

Gadamers Position in der Hermeneutik besteht in der ontologischen Lesart des Subjekts des Erkennens. Das bedeutet, erstens, dass Gadamer im Gegensatz zur Entwicklung von Methoden und Techniken des Textverständnisses in der Hermeneutik selbst, die einseitige epistemologische Ausrichtung überwinden möchte. Er bezieht in die Problematik der Hermeneutik die Fragen des Weltgefühls, des Lebenssinns ein — Ideen, die er aus der fundamentalen Ontologie seines Lehrers Heidegger schöpfte. Dieser unternahm den Versuch, die Hermeneutik in eine besondere Philosophie zu verwandeln — eine Philosophie des Textverständnisses, wobei der Begriff "Text" jede Information zwischen zwei Subjekten des Verstehens bezeichnet: schriftlicher Text, mündlicher Text (Sprache), Intonation, Blick, Geste, Schweigen.

Als logische Konsequenz betrachtet Gadamer zweitens die Hermeneutik nicht als die Fähigkeit, den authentischen (autorialen) Text wiederherzustellen, sondern als die Möglichkeit, die wahre Geschichte des Textes fortzusetzen, indem jeder neue Interpretator einen neuen Sinn erschafft und im Wesentlichen einen neuen Text bildet.

Gadamer, als Schüler Heideggers, vollzieht eine ontologische Lesart der vorhergehenden Hermeneutiker von Schleiermacher über Dilthey bis zu Scheler und interessiert sich als Philologe für die Entwicklung von Methoden und Techniken des Verstehensprozesses, was ihm jedoch nicht hindert, seine eigene hermeneutische Linie zu verfolgen — nämlich die Bildung des eigenen Sinns eines fremden Textes.

Die Idee, die Vorgänger als Fundament für die Entwicklung einer eigenen Theorie zu betrachten, gehört nicht Gadamer allein; bereits Hegel hatte diese Eigenschaft. Gadamer bearbeitet Hegel, dessen Objektivität er anzustreben versucht, und erschafft im Prozess der Textauslegung einen "dritten Weg". Diese Position wird besonders deutlich in Gadamers Interpretation seines Lehrers Heidegger. Und wie bei jeder eigenständigen Position, hat auch diese sowohl positive als auch negative Aspekte.

Im Laufe der Zeit tritt Gadamer immer entschiedener gegen die Auffassung der Hermeneutik als Methode, als technisches Instrument der Textinterpretation auf. Eine solche Hermeneutik hat nichts mit dem Sinn zu tun. Er spricht sich gegen das Verständnis der Hermeneutik als Methode der Erfassung der geistigen Realität aus, gegen das Verständnis des Textes als Erkennen des Sinns, da der hermeneutische Text in dieser Interpretation nicht mehr im eigentlichen hermeneutischen Sinne des Wortes als Text verstanden wird, sondern zu einem Objekt der Forschung wird, ähnlich einem Objekt der Naturwissenschaften.

Die Arbeit Wahrheit und Methode, in der Gadamer die Grundzüge seiner weltanschaulich orientierten — philosophischen — Hermeneutik darlegt, stellt die eigentliche Entstehung der philosophischen Hermeneutik dar, die sich mit den genannten Interpretationen der Hermeneutik auseinandersetzt.

Die Lehre vom Verstehen

Das Problem des Verstehens, wie es von Gadamer gelöst wird, bedeutet, dass die Auseinandersetzung mit jedem Text in erster Linie ein “Erlebnis des Reflektierens“ erfordert — ein Reflektieren, das sich unaufhörlich durch die Mittel der Sprache auszudrücken sucht, ein Reflektieren, das niemals von Null beginnt und niemals in Unendlichkeit endet. Gadamer räumt jedem Interpreten nicht nur die Fähigkeit, sondern auch die Notwendigkeit ein, den Text persönlich zu lesen, ihn neu zu denken und neu zu bewerten, oder “neu zu schreiben“. Die Interpretation des Textes besteht nicht in der Rekonstruktion des ursprünglichen autorialen Textes, sondern in der Schaffung eines eigenen “Autoren-Textes“, dessen Quelle Gadamer im eigenen — hermeneutischen — Erlebnis sieht. Dieses Erlebnis bildet die Grundlage, die den Algorithmus des Verstehens bestimmt. Das Erlebnis des “Ich“ wird zum Ausgangspunkt für die Bildung des Horizonts — des Horizonts des Verstehens.

Das Ziel des Verstehens, so Gadamer, besteht nicht in der richtigen Interpretation des Textes, nicht in der Rekonstruktion der Ideen und Meinungen des Interpretierten, sondern in der Aktivierung der eigenen Denkprozesse durch die Bildung eines dialogischen Frage-Antwort-Systems. Die Interpretation des Textes wird so zur produktiven, schöpferischen Seite des hermeneutischen Erlebens.

Indem Gadamer auf die ontologische Lesart des Problems des Verstehens hinweist, versteht er Verstehen als einen Zustand, in dem sich die Möglichkeit der Erreichung der Vollständigkeit des Seins eröffnet. Das Verstehen fördert die Verbesserung der Beziehungen zur Welt und zu anderen Menschen, aber dieser Aspekt ist für Gadamer nicht der entscheidende. Verstehen in dieser Perspektive ist lediglich ein Werkzeug, weshalb ein Leben, das auf der Instrumentalität des Verstehens basiert, ein Pseudo-Leben ist, ein Surrogat. Dieses Verstehen ist nichts anderes als ein Mechanismus, der den Menschen in die soziokulturellen Bedingungen seines Daseins integriert. Dasein ist jedoch nicht identisch mit Sein — hier tritt Gadamer als Existentialist auf, wobei er sich auf die Überlegungen zu dem Verhältnis von Sein und Seiendem bei Heidegger stützt.

Verstehen, so Gadamer, ist kein Akt des gedanklichen Analysierens, sondern ein Anlass zum Nachdenken über den Text, wobei die Selbstbehauptung des Interpreten stattfindet. Im Prozess der Begegnung mit dem Anderen (mit großem A, da es sich um eine ontologische Begegnung handelt) wird die “Du-Erfahrung“ gebildet. Dieses Verstehen bildet die Grundlage der menschlichen Tätigkeit und des Lebens im Allgemeinen, weil im Dialog die wahre, gegenwärtige Sinnbildung entsteht. Die Geburt des Sinns erfüllt die Funktion des Initiators des Verstehens. Der Sinn ist im Aufbau des Lebens selbst verwebt, könnte man sogar sagen, in der Dichte und Intensität des Lebens.

Der Prozess der Sinnbildung, über den Gadamer schreibt, beruht nicht auf rationaler Grundlage, sondern auf unbewussten Mechanismen, die die präreflexiven Schichten des Bewusstseins zum Leben erwecken. Gadamers Verstehen ist kein Produkt des Denkens, da Verstehen unvorstellbar ist (offensichtlich fehlt Gadamer der begriffliche Werkzeugkasten der Philosophie). Diese Merkmale des Verstehens weisen auf vorbegriffliche, folglich vorsprachliche Formen des Verstehens hin.

Gadamer betont immer wieder, dass sein Verstehen vor allem ein Vor-Verstehen ist. Zu diesem Zweck führt er ein ganzes Netzwerk von Begriffen wie “Vorerwartung“, “Vorurteil“, “Vorgedanke“ usw. ein, um die Bestimmung des Lebens und der Tätigkeit durch vorobjektuelle Verbindungen des hermeneutisch orientierten Menschen zu unterstreichen.

Verstehen als den Sinn schaffender Akt des “Ich“ zwingt dazu, die Besonderheit der Hermeneutik neu zu betrachten: Das Individuum hört in seiner Einzigartigkeit und Besonderheit auf, ein Ausdruck des Allgemeinen zu sein, sondern wird zum einzigartigen und einmaligen Entdecker eines neuen Sinns, d. h. eines neuen Raumes und einer neuen Zeit. In der “Du-Erfahrung“ wird die Wahrheit des Seins vollzogen, d. h. die Dialogizität, und es wird Freiheit erlangt — man könnte sagen, Freiheit von der Diktatur des Seienden. Verstehen ist immer unumkehrbar und immer einzigartig. Die Grundlage dieses Verstehens bildet die hermeneutische Erfahrung — ein Begriff, den Gadamer eingeführt hat.

Das Konzept des hermeneutischen Erlebnisses als Horizont des Verstehens

Im Prozess des Verstehens als Sinnbildung, als Akt der kreativen Interpretation des Anderen, kann das “Ich“ nur die geistige Erfüllung seines eigenen Daseins spüren und sich auf die innerpersönlichen Aspekte der Beziehung im “Du-Erlebnis“ ausrichten. Dies ist Gadamer's Antwort auf Descartes in Bezug auf die Evidenz: nicht das cogito, sondern das hermeneutische Erlebnis ist die erste Gewissheit des “Ich“, die allerwahrhaftigste Gewissheit.

Das hermeneutische Erlebnis ist grundsätzlich nicht technisch und nicht methodisch, weshalb das Handeln, auch das erkenntnistheoretische, nur indirekt damit verbunden ist. Das erkenntnistheoretische Verstehen ist schwach hermeneutisch, das Sein jedoch ist hermeneutisch, folglich ist das erkenntnistheoretische Verstehen nicht-sein.

Die frühere Hermeneutik, so Gadamer, hat bewusst oder unbewusst das hermeneutische Erlebnis verborgen und nur ein Surrogat des Lebens dargestellt. Die alte Hermeneutik strebte danach, die Vielfalt der Welt und menschlicher Beziehungen zu verstehen, indem sie ein einziges Werkzeug fand — die hermeneutische Methode als Methode des Verstehens des Anderen. Infolgedessen waren Welt und Mensch so flach und vereinfacht, dass die wahre Lebenswahrheit durch ein totes Schema des Lebens ersetzt wurde. Doch das Schema ist falsch, nicht wahr, schon aufgrund seiner Geschlossenheit, denn jede Schema basiert auf einer einzigen Methode, auf der das gesamte Gebäude der methodischen Einseitigkeit aufbaut.

Um aus der Unwahrheit herauszutreten und in die Wahrheit des Seins einzutreten, muss man die alte Methode der Hermeneutik als Verstehen durch eine neue ersetzen — die dialogische, pluralistische Methode des Seins selbst. Es ist erforderlich, in den hermeneutischen Kreis einzutreten — in den Kreis des Seins selbst.

Der hermeneutische Kreis wurde in der alten Tradition als das besondere Merkmal des Verstehensprozesses verstanden.

Was ist für das Verständnis bedeutender — das Verstehen des Ganzen oder das Verstehen des Teils? Wann ist das Verstehen erreicht? Wenn das Ganze bekannt ist? Und dann kommen wir durch deduktive Methoden zum Verstehen der Teile? Zum Beispiel, wenn man die Gesellschaft versteht, in der der Mensch lebt, kann man dann das einzelne Mitglied dieser Gesellschaft verstehen? Oder wird Verstehen nur dann erreicht, wenn die Teile des Ganzen bekannt sind? Und dann kann man das Ganze durch unmittelbare Schlussfolgerungen und wahrscheinliche Schlüssen (Induktionen und Analogien) verstehen?

Der Ausstieg aus dem Kreis, wiederholt Gadamer die Worte von Heidegger, ist der Ausstieg aus den Grenzen des Verstehens. Daher ist die Aufgabe der Hermeneutik nicht, den Kreis zu verlassen, sondern im Gegenteil, richtig in ihn einzutreten, ohne die etablierte Tradition zu verletzen und ohne die hermeneutischen Erfahrungen anderer zu zerstören. Das hermeneutische Erlebnis eines jeden Menschen stellt die gewordene Realität, die erlebte Wirklichkeit dar. Das hermeneutische Erlebnis ist objektiv.

Es lässt sich feststellen, dass Gadamer die Geschichte des Menschen der nicht-hermeneutischen, also außerhistorischen Alltäglichkeit entgegensetzt. Der Alltag vollzieht sich in einem geschlossenen Kreis nach dem Muster: “Alles war, alles wird sein und alles ist eitel“. Das hermeneutische Erlebnis jedoch ist eine prinzipielle Offenheit gegenüber der Welt, ein ständiges “Lernen“ von der Welt. Das hermeneutische Erlebnis ist die Zeit des Lebens des Menschen, die Zeit seiner Geschichte, also historische Zeit. Da das Erlebnis temporal ist, ist Verstehen ohne Verständnis der Geschichte, ohne Verständnis der Voraussetzungen der Geschichte, nicht möglich.

Gadamer betont stets, dass das Denken nicht voraussetzungslos ist. Die Voraussetzungen des Verstehens und des Denkens spiegeln die Geschichtlichkeit des Menschen wider und bilden das Fundament des Lebens selbst.

Die Lehre von den Vorurteilen

Was sind die Voraussetzungen des Verstehens? Wie kann man die Geschichte des historischen Menschen begreifen? Und was ist Geschichte? Gadamer zufolge besteht das Wesen der Geschichte in den Vorurteilen. Gadamer tritt gegen das traditionelle Verständnis der Vorurteile als etwas Falsches, Subjektives auf und verbindet diesen falschen Gedanken mit den damaligen Ansichten und Forderungen der Renaissance und der Aufklärung: “Den Verstand von Vorurteilen zu befreien“, insbesondere von religiösen Vorurteilen.

Gadamer sieht im Begriff “Vorurteil“ einen anderen Aspekt: Vorurteil — ein Vor-Urteil — ist ein vorläufiges Urteil, das dem Prozess des Verstehens zugrunde liegt. Daher verhindert das Vorurteil im Unterschied zur Tradition nicht das Verstehen, sondern fördert es. Das Vorurteil ist in der Tradition verwurzelt. Wer das Vorurteil kennt und versteht, kann die Tradition verstehen, also das Zeitalter, in dem er lebt, d.h. das Zeitalter, in dem der “Objekt des Verstehens“ lebt. Dank des Vorurteils wird die Bildung eines einheitlichen Bedeutungs-Kontinuums zwischen dem Interpreten und dem Interpretierenden sichergestellt. Das Vorurteil trägt zur Übertragung von Erfahrungen bei, zur Bekanntschaft mit der Zeit, folglich ist es eine Garantie des Verstehens.

Das Vorurteil ist eine Voraussetzung des vorläufigen Verstehens und wird durch die Tradition vorgegeben, die ihre Wurzeln in Kultur, sozialen Normen und Standards des Lebensstils hat. Daher gibt es keinen Menschen, der dem Einfluss des Vorurteils entkommen könnte. Das Vorurteil wird in diesem Kontext zur Voraussetzung des Lebens des Menschen, des Denkens, des Verstehens. Es gibt kein denken ohne Voraussetzung, kein verurteilungsfreies Verstehen. Es ist schwer zu sagen, welchen Einfluss die Lehre von C.G. Jung über das kollektive Unbewusste (1953) auf Gadamer hatte, obwohl die Korrelationen offensichtlich sind (die Arbeit “Wahrheit und Methode“ wurde 1960 geschrieben).

Das Vorurteil ist in der Tradition verwurzelt, und Tradition manifestiert sich nur in der Form autoritativer Aussagen, d.h. in sprachlicher Form. Daher ist das Vorurteil im Sprachlichen verwurzelt. Sprache trägt den Inhalt des Vorurteils als vorläufige Beurteilung (vor der Prüfung auf Wahrheit). Sprache ist die Bedingung für das vorläufige Verständnis. Die Gesamtheit autoritativer Aussagen bildet die Essenz der Tradition und drückt ihren befehlenden autoritativen Ton aus. Der Befehl der Autorität ist der Befehl der vergangenen Erfahrung des Menschen, der als Zeugnis der Richtigkeit der Autorität erscheint. Der Befehl der Autorität der Tradition ist gleich dem Befehl der Zeit, dem Befehl der Geschichte selbst. Der Befehl der Tradition drückt die Zeit aus, doch die Zeit ist unumkehrbar: Was gestern für den einen richtig war, kann morgen für einen anderen falsch sein.

Indem Gadamer die Tradition der Aufklärung bezüglich der negativen Definition des Vorurteils kritisiert und gleichzeitig eine eigene positive Definition des Vorurteils anbietet, ist er widerspruchsfrei. Er versucht, die Gegensätze im Verständnis des Vorurteils zu verbinden, und schlägt vor, im Vorurteil zwei Aspekte hervorzuheben: Intimität, die die Einheit des Verstehensprozesses bildet, und Fremdheit, die zeitliche Distanz. Da die Zeit unumkehrbar ist, kann der Mensch der Tradition, der Autorität, dem Vorurteil nicht blind folgen. Andernfalls verfällt er in den Zustand des Alltags, des “Kreisverkehrs“, beinahe des Rades der Samsara.

Der Mensch ist verpflichtet, mit der Tradition einen ewigen Dialog zu führen, dies ist eine Pflicht gegenüber der Zeit, gegenüber der Geschichte. Indem der Mensch der Tradition eine Frage stellt, stellt er zugleich eine Frage an die Zeit, an die Geschichte. Im Vorurteil ist die Autorität der Tradition verkörpert. Aber da das Verstehen persönlich ist, muss der Mensch persönlich auf das Vorurteil zugehen und es produktiv verarbeiten, neue Akzente setzen. An dieser Stelle schafft Gadamer selbst den hermeneutischen Kreis und führt uns konsequent zurück zum Verständnis des hermeneutischen Erlebnisses als “Umschreibung“ der Geschichte, als individuelle Kreativität.

Die konzeptionelle Wertigkeit von Gadamer's Ansatz zur Problematik des Verstehens

Zieht man eine Parallele zwischen der philosophischen Hermeneutik Gadamer's, bei der die traditionelle Hermeneutik von einer Methodologie des Verstehens zu ihrer Ontologie transformiert wird, also zu einer Problemstellung über den Sinn des Seins und die Spezifik des Verstehens als das Auslegen neuer Bedeutungen, und der Problematik des Verstehens bei dem Begründer der modernen Version des "Panpsychismus", A.N. Whitehead, sowie in den Varianten der analytischen Psychologie von C.G. Jung, so lässt sich ein gemeinsamer Aspekt finden, der die Besonderheit der theoretischen Erkundungen der Mitte des 20. Jahrhunderts aufzeigt. Erstens der Übergang philosophischer Fragestellungen vom erkenntnistheoretischen in den ontologischen Bereich. Zweitens die Hinwendung sowohl der philosophischen Hermeneutik als auch der Vertreter des "Panpsychismus" zur Antike, nämlich zur antiken griechischen Philosophie und zur altindischen realistischen Philosophie.

Was die Lösung der Verstehensproblematik betrifft, so wird diese nicht mehr auf den Erkenntnisprozess oder psychische Vorgänge reduziert. Verstehen wird vielmehr als eine Art des Existierens des Menschen betrachtet und kann folglich zu einer Grundlage einer ganzheitlichen Anthropologie werden, die nicht auf epistemologische Interpretationen zurückgeführt werden kann.

Die Festlegung des Begriffs "hermeneutischer Erfahrung" in der Philosophie, in dem sich die prinzipielle Offenheit gegenüber der Welt und der darauf basierende Prozess der Bedeutungsbildung ausdrücken, ermöglichte es, Anforderungen an methodologischen Pluralismus zu formulieren, der in der Struktur des sozialen Wissens eine gewisse heuristische Wertigkeit erlangt.