Einführung in Die Moderne Philosophie - 2024
Die Philosophie Oswald Spenglers
Allgemeine Charakteristik
Oswald Spengler ist der letzte große Vertreter der “Philosophie des Lebens“ und zugleich einer der Begründer der modernen Kulturphilosophie. Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg legte er mit seinem monumentalen Werk Der Untergang des Abendlandes eine kulturphilosophische Antwort auf die damaligen Zeitgeschehnisse vor. Der erste Band wurde 1914 abgeschlossen, jedoch erst 1918 veröffentlicht; der zweite folgte im Jahr 1922. Spengler appelliert nicht an den Verstand oder die Vernunft, wie es bei den akademischen Philosophen üblich war, sondern an die emotionale Sphäre des Menschen. Ziel war es, den Geist der europäischen Kultur zu mobilisieren, um die Apokalypse Europas zu reflektieren.
Diese unkonventionelle Herangehensweise entspringt zweierlei: Zum einen seiner weltanschaulichen Haltung, die sich bewusst von den traditionellen philosophischen Schulen und akademischen Strömungen distanzierte. Zum anderen seiner eigenen emotionalen Reaktion auf die Ereignisse seiner Zeit, insbesondere die italienische Invasion von Tripolis im Jahr 1911, die ihn zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Möglichkeit eines globalen Konflikts führte. Diese Reflexion veränderte den ursprünglich politisch-publizistischen Charakter seines Werks und lenkte es in Richtung Geschichtsphilosophie und Kulturtheorie.
Der Untergang des Abendlandes stellt Spenglers Kritik am Eurozentrismus und Panlogismus dar. Seine Kulturtheorie verbindet zwei zentrale Traditionen: den Organizismus und den Irrationalismus. Der Organizismus interpretiert jedes kulturelle Phänomen, jeden historischen Prozess und jede individuelle Erfahrung als biologisch-organisch, mit allen Merkmalen und Gesetzmäßigkeiten des Lebendigen. Der Irrationalismus, beeinflusst von Friedrich Nietzsche, postuliert, dass kulturelle Phänomene und persönliche Erlebnisse jenseits rationaler Erklärung liegen und nicht durch analytisches Denken erfasst werden können.
Spengler verbindet diese beiden Ansätze in seiner Kulturphilosophie. Einerseits entwickelt er die Theorie des morphologischen Organizismus, die Kultur als organisches Gebilde mit spezifischer Struktur betrachtet. Andererseits erkennt er die Grundlagen der Kultur in vor-rationalen, tiefen Symbolen, ähnlich wie Nietzsche den “dionysischen“ und den “apollinischen“ Geist unterschied.
Die Lehre von der Natur des Menschen
Geschichte ist die Geschichte des Menschen und der Menschheit. Um eine Theorie der menschlichen Geschichte zu entwickeln, muss zunächst das Wesen des Menschen und seiner Natur verstanden werden. Für Spengler ist der Mensch ein biologischer “Strom“, ein reines Fließen der Existenz mit einzigartigen Merkmalen, die seine Natur und Essenz ausmachen. Diese Essenz ist nicht nur einzigartig, sondern wandelt sich in den verschiedenen Phasen des Lebens — ein Gedanke, der an den heraklitischen Fluss erinnert. Spengler, der seine Dissertation über Heraklit schrieb, griff oft auf dessen Bilder und Vergleiche zurück.
Die menschliche Natur, so Spengler, ist ebenso natürlich wie die eines Ameisenhaufens oder eines Schmetterlings. Sie “wächst vollständig aus einem organischen Gefühl heraus“ und entsteht mit derselben inneren Notwendigkeit wie die Schale eines Mollusks, der Bienenstock oder das Vogelnest. Spengler sieht in der gesamten lebendigen Vielfalt das “Formen“ eines natürlichen Prinzips, das auf ein gemeinsames Gesetz zurückgeführt werden kann — den Logos, ein von Heraklit geprägter Begriff für die Prinzipien des organischen Daseins.
Daraus ergibt sich eine zentrale ontologische Position: ein Biozentrismus, der das Leben in den Mittelpunkt stellt, im Gegensatz zum Kosmozentrismus der Antike, dem Theozentrismus des Mittelalters und dem Anthropozentrismus der Renaissance. Spenglers Methode der Reduktion, die menschliche Geschichte und Kultur auf biologische Grundlagen zurückführt, bildet die Basis seiner Kulturmorphologie.
Haus und Kunst als Gegensätze
Die Natur des Menschen spiegelt sich deutlich in seinem Haus wider, das Ausdruck der Seele und Kultur des Menschen ist. Spengler betont, dass die Form des Hauses aus den Tiefen der menschlichen Seele erwächst, im Gegensatz zur architektonischen Planung eines Kathedralbaus, der Berechnungen und gestalterischen Aufwand erfordert.
Das Haus ist für Spengler ein unmittelbares und notwendiges Produkt des Lebens, frei von künstlicher Gestaltung und repräsentativ für die “dunkle, alltägliche Tiefe“ der menschlichen Seele. Kunst hingegen, als künstliche Verschönerung des Lebens, entbehrt dieser inneren Notwendigkeit. Spengler sieht die Kunst als überflüssig für die Essenz des Lebens, da sie oberflächlich ist und letztlich zum kulturellen Verfall führt, wenn Kunst zur bloßen Industrie wird.
Nicht die lineare Abfolge von Epochen und Kulturen, sondern der Wechsel menschlicher “Häuser“ offenbart die Geheimnisse der Geschichte. Gegenstände des Alltags — Waffen, Geschirr, Möbel, Kleidung — spiegeln den Lebensstil und die Anpassung des Menschen an seine Umwelt wider. Das Haus verkörpert die reale Lebensweise des Menschen, während Kunst und künstliche Bauwerke den rationalisierten Ausdruck des Bewusstseins darstellen. Diese Sichtweise bestätigt Spenglers Irrationalismus, der Kulturphänomene in ihrer nicht-rationalen, tiefen Symbolik deutet.
Historische Pseudomorphosen
Die Hinwendung zur Sprache der Kultur, insbesondere zur Analyse des Gebrauchs von Griechisch und Latein, führte westeuropäische Kulturforscher zu der Schlussfolgerung, dass drei Kulturtypen und drei Epochen existieren: Antike, Mittelalter und Neuzeit. Oswald Spengler jedoch kritisiert, dass dabei übersehen wurde, dass die deutsche Literatur in lateinischer Sprache verfasst war und die englische Sprache ihrerseits lange Zeit auf das Französische zurückgriff. Aufgrund dieses Umstands blieb die magische Kultur, die keine eigene Muttersprache besaß und sich verschiedener Sprachen bediente, jedoch im Geist einheitlich war, isoliert und unbeachtet. Diese “philologische Grenze“ erwies sich als unüberwindbar für die christliche Theologie und die Religion insgesamt.
Die persische (iranische) Kultur bildete zusammen mit der jüdischen (talmudischen) das Zentrum der damals noch “ungeborenen“ arabischen (magischen) Kultur. Trotz ihres “Ungeborenseins“ in der Epoche von Caesar und Augustus stellte sich die arabische Kultur bereits gegen die altersschwache antike Zivilisation. Die magische Kultur jener Zeit verfügte bereits über “Blut“ (wirtschaftlich-politische Potenziale) und “Seele“ (religiös-metaphysische Möglichkeiten), um später aufzublühen. Ein indirekter Beweis für die östliche Orientierung des Westens in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung zeigt sich in Caesars Plänen, die Hauptstadt von Rom nach Alexandria zu verlegen, in Antonius’ Neigung zu einem monarchischen System nach östlichem Vorbild (verkörpert durch Kleopatra) sowie in der Reform des Kalenders auf Basis der alexandrinischen Wissenschaft. Der Sieg Octavians über Antonius wurde von den Römern als Triumph der Götter Minerva, Neptun und Venus über den bellenden Anubis und andere monströse Götter des Ostens dargestellt.
Die revolutionären Kriege zwischen dem jungen Osten und dem aus der Geschichte scheidenden Westen sowie die Verlegung der Hauptstadt von Rom nach Byzanz, nach Konstantinopel im Jahr 330, markieren nach Spengler den Beginn der Ära der magischen Kultur. Obwohl die Antike (die alte Zivilisation) noch die Jugend (die magisch-arabische Kultur) besiegt, sieht Spengler den bevorstehenden Triumph der Letzteren. Das Spannungsverhältnis zwischen der alten zivilisatorischen Form und dem neuen kulturellen Inhalt, zwischen dem “Gewordenen“ und dem “Werdenden“, bezeichnet er als eine historische Pseudomorphose.
Die zweite Pseudomorphose der Geschichte sieht Spengler in der “petrinischen Russland“. Den Beginn der russischen Kultur datiert er auf die Befreiung von der tatarischen Herrschaft, die durch die Ära der letzten Rurikiden und ersten Romanows bis zu Peter dem Großen reicht. Die Epoche umfasst Gestalten wie Iwan den Schrecklichen, Boris Godunow und Wassili Schuiski. Mit der Gründung Sankt Petersburgs im Jahr 1703 begann eine Pseudomorphose, die die ursprüngliche russische Seele zwang, sich in fremden Formen auszudrücken: zunächst im späten Barock, dann in den Formen der Aufklärung und später in denen des 19. Jahrhunderts. Peter der Große wurde zu einer verhängnisvollen Figur für das russische Wesen. Spengler zieht hier eine Parallele zu Karls des Großen. Es hätte die Möglichkeit gegeben, Russland nach dem Vorbild der Karolinger oder der Seleukiden zu führen — entweder im altrussischen oder im “westlichen“ Geist. Die Romanows entschieden sich für Letzteres.
Das russische Volk, dessen Bestimmung darin lag, über Generationen hinweg außerhalb der Geschichte zu leben, wurde künstlich in eine fremde, uneigentliche Geschichte gezwungen, deren Geist der russischen Eigenart zutiefst fremd war. In einem Land ohne Städte, geprägt von althergebrachten bäuerlichen Traditionen, wuchsen Städte fremden Stils wie Geschwüre empor — unnatürlich und unwahrhaftig bis in ihr Innerstes. Spengler stimmt Fjodor Dostojewski zu, der prophezeite, dass Sankt Petersburg eines Morgens im Nebel des Sonnenaufgangs verschwinden werde — das Schicksal jedes “Gespenstes“. Solche unwirklichen Städte habe es auch in früheren Epochen gegeben, stets auf fremdem, erobertem Boden errichtet, und sie verschwanden schließlich in der Vergessenheit.
Es gibt keine größere Gegensätzlichkeit, so Spengler, als die zwischen russischem und westlichem, jüdisch-christlichem und spätantiken Nihilismus. Hier steht der Hass auf das Fremde, der eine ungeborene Kultur vergiftet, gegen den Überdruss an der eigenen Kultur, deren Gipfel die Menschen ermüdet hat. Junge Menschen im Russland vor dem Krieg, die sich ständig mit Metaphysik beschäftigten und alles durch die Augen des Glaubens betrachteten, selbst wenn es scheinbar um Wahlrecht, Chemie oder die Bildung von Frauen ging, glichen Juden und frühen Christen in den hellenistischen Großstädten, denen Römer mit Spott, Abscheu und zugleich heimlicher Furcht begegneten.
Am Beginn jeder Kultur und jeder Geschichte eines Volkes stehen das “tiefste religiöse Weltgefühl“, “unerwartete Erleuchtungen“, “ein Schaudern vor Ehrfurcht“ und “metaphysische Träume“. Am Ende der Geschichte steht eine “bis zur Schmerzgrenze gehende intellektuelle Klarheit“.
Diese Überlegungen zu historischen Pseudomorphosen verdeutlichen die Methode der historischen Analogiebildung, die Spengler konsequent in seinem Werk anwendet.
Das Problem der Kultur in der Historiologie
Die Methode der Analogien basiert, erstens, auf der Analyse von Ähnlichkeiten zwischen Phänomenen hinsichtlich bestimmter Merkmale — sogenannter “übertragbarer Merkmale“. Für Spengler sind diese Merkmale das Aufblühen und der Untergang von Kulturen. Zweitens wird aus den festgestellten Ähnlichkeiten dieser “übertragbaren Merkmale“ geschlossen, dass auch die Phänomene selbst, also die Kulturen, Ähnlichkeiten aufweisen. Der ohnehin probabilistische Charakter des Analogieschlusses wird von Spengler durch eine unscharfe Analogie ergänzt, die Überlegungen des “gesunden Menschenverstands“ einbezieht. Daher können Spenglers originelle Ideen als Mythologeme betrachtet werden, und sein Werk Der Untergang des Abendlandes wird zu einem Produkt mythischer Welterzeugung.
Die Methode der historischen Analogie ermöglichte es Spengler jedoch nicht, Beweise zu erbringen oder Erklärungen zu liefern, sondern neue Fakten in der umgebenden kulturellen Wirklichkeit zu erkennen und neue Probleme für die Historiologie aufzuwerfen — insbesondere die Frage nach der Kultur. Damit schuf er die Grundlage für den Aufbau einer neuen Ontologie: der Ontologie der Kultur.
Während sich die vorhergehende Philosophie mit der Suche nach Gesetzmäßigkeiten der Geschichte und der Ermittlung von Ursachen für bestimmte historische Phänomene beschäftigte, nähert sich Spengler der Frage nach dem Verhältnis von Geschichte und Kultur. “Anstelle des monotonen Bildes einer linear verlaufenden Weltgeschichte, an der man nur festhalten kann, wenn man die überwältigende Menge an widersprüchlichen Fakten ignoriert, sehe ich das Phänomen einer Vielzahl mächtiger Kulturen, die mit ursprünglicher Kraft aus den Tiefen des Landes hervortreten, das sie hervorgebracht hat und an das sie während ihres gesamten Bestehens fest gebunden sind.“
Jede Zivilisation führt der Menschheit ihr einzigartiges Schauspiel vor. In jeder Kultur lassen sich mühelos vier Arten von unverwechselbaren Eigenheiten erkennen: “ihre eigene Idee“, “ihre eigene Leidenschaft“, “ihr eigenes Leben“ und “ihren eigenen Tod“. Nach Spengler formen gerade diese Eigenheiten das stilistische Gesamteiner einer Kultur — die Einheit ihrer Denkformen, ihrer Lebensweise in all ihren Ausdrucksformen: Religion, Kunst, Politik, Wirtschaft, Recht.
Diese stilistische Einheit des kulturellen Lebens sieht Spengler überall — von Palastintrigen und wissenschaftlichen Entdeckungen bis hin zur Architektur eines Kathedralbaus und den Ornamenten eines Tongefäßes. Die Analyse der morphologischen Struktur einer Kultur erlaubt es Spengler, acht gleichwertige Kulturen auf dem gleichen Reifestadium zu unterscheiden: die ägyptische, indische, babylonische, chinesische, griechisch-römische (apollinische), europäisch-christliche (faustische), magische (byzantinisch-arabische) und die Kultur der Maya sowie die entstehende russisch-sibirische Kultur.
Die Geschlossenheit und Undurchdringlichkeit der Kulturtypen lassen kein einheitliches Gefüge einer Weltgeschichte zu.
Spengler verteidigt den Grundsatz der Unvergleichbarkeit von Kulturen und stellt deren Entwicklung als einen in sich geschlossenen Zyklus von Übergängen dar. Genauso wie bei Gesteinen, in denen Kristalle bestimmter Mineralien durch Wasser ausgelaugt werden, wodurch Hohlräume entstehen, die die Form der einstigen Kristalle bewahren, “lastet“ die alte Kultur, die geographisch und historisch einer jüngeren vorausgeht, so mächtig auf dieser, dass die junge Kultur kein “freies Atmen“ finden kann. Sie ist unfähig, eigene Ausdrucksformen zu schaffen, und manchmal sogar, sich selbst zu begreifen — wie es mit der arabischen Kultur geschah.
Die Existenz von acht Kulturen zeigt, dass es nicht nur keine einheitliche Weltgeschichte als lineare Entwicklung der Menschheit gibt, sondern auch kein einfaches historisches Einheitsgefüge. Jede Kultur ist lediglich eine Form des Lebensausdrucks im Universum.
Das Symbol der Kultur als ihre Voraussetzung
Jede Kultur, ein lebendiger Organismus, trägt ein ihr eigenes Symbol in sich. Dieses Symbol ist einerseits die “Seele“ der Kultur, das systembildende Prinzip, andererseits bleibt es selbst für den Forscher in den Formen der Kultur verborgen. Eine junge Kultur oder ein “junge Welt“ wird von Fachleuten der antiken Geschichte und Theologie oft schlichtweg übersehen. In einer noch nicht geborenen Kultur erkennen sie lediglich “primitive“ und “unbedeutende“ Umstände. Dies liegt an einer von Grund auf fehlerhaften Methodologie, bei der das “Neue“ durch die Augen des “Alten“ betrachtet wird. Hier entsteht in der Epistemologie und Hermeneutik ein Zirkelschluss — ein Thema, das bei Martin Heidegger und Hans-Georg Gadamer ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts an Bedeutung gewinnen sollte.
So entstellen beispielsweise Philologen, die “nicht die geringste Ahnung vom unermesslichen Reichtum der arabischen Archaik und den wahren Schwerpunkten ihrer Betrachtungen und Erkenntnisse“ besitzen, die tatsächliche Geschichte des Entstehens der arabischen (magischen) Kultur. In der modernen Wissenschaft, so schreibt Spengler, herrsche die “absurde Meinung“ vor, die arabische Kultur sei ein “geistiger Epigone“ der Antike — eine bloße Nachfolgerin (vom Griechischen: epigonos, “nachgeboren“) —, und dieses Epigonentum sei ein Zeichen sowohl für die historische Nachfolge als auch für die inhaltliche Verarmung, Verkleinerung und Degeneration der späteren arabischen Kultur.
Als Grundlage seiner Kritik an dieser “absurden Meinung“ führt Spengler die Unzulässigkeit an, den Beginn der arabischen Kultur und Wissenschaft allein an die zeitlichen Grenzen des Islam zu knüpfen. “In Wirklichkeit ist fast alles, was dem modernen Auge als Frucht des spätantiken Geistes erscheint, lediglich ein Abbild der verborgenen Tiefen der früharabischen Seele.“ Alles, was seinem Ursprung und Geist nach zum magischen Kulturkreis gehört, tritt in Alexandria und Beirut in die Formen griechischer Philosophie und römischer Jurisprudenz ein, wird in griechischer und lateinischer Sprache aufgezeichnet, in fremde und längst verfestigte literarische Formen gezwängt und durch die überkommene Denkweise einer völlig heterogenen Zivilisation verfälscht.
Nachdem Spengler die verschiedenen Kulturen herausgestellt und als heterogen erkannt hat, beschreibt er, dass jede Kultur neben den vier Lebensstufen — Geburt, Blüte, Verfall, Tod (vergleichbar mit Frühling, Sommer, Herbst und Winter) — auch spezifische Charakteristika besitzt. Diese charakteristischen Merkmale sind “Gegensätze symbolischer Bedeutung“, die als Voraussetzungen der Kultur fungieren.
Für die griechisch-römische Antike liegt dieser Gegensatz in Materie und Form; für die europäisch-christliche (faustische) Kultur in der Dualität von Kraft und Masse; für die byzantinisch-arabische (magische) Kultur in den Gegensätzen von Licht und Dunkelheit. Im Zentrum dieser Gegensätze steht die Position des Ichs im Raum und in der Zeit der jeweiligen Kultur.
Die antike Kultur zwingt ihren Trägern eine “Fokussierung auf den punktuellen Augenblick“ auf, der nur eine einzige Frage beantworten kann: “Wie?“ Die westeuropäische Kultur dagegen ruft ihre Mitglieder zu einem “unendlich fernen Ziel“ und zu einem “grenzenlosen Lauf der Zeiten“. Die nahöstliche Kultur stellt ihren eigenen, unvergleichbaren Takt der Zeit und ihr korrespondierendes “magisches Raumverständnis“ vor — beides gleichzeitig Anfang und Ende der Menschheitsgeschichte.
Kultur als Modell zur Beschreibung und Erklärung der Welt
Indem Spengler die Voraussetzungen der Kulturen untersucht und ihre “Grundfragen“ formuliert, operiert er fortlaufend mit Begriffen wie “Weltgefühl“ der Kultur, “Weltverständnis“ ihrer Bilder, “Wahrnehmung der Welt“, “Vorstellungen“ und “große Visionen“ der Kultur sowie “dynamische Weltkonzeption“. Damit bereitet er die Frage nach dem Status der Kultur im Leben des Menschen vor.
Kultur, wie sie Spengler versteht, ist nichts anderes als ein Modell zur Erklärung der Welt, ein Mittel zur Beschreibung der Struktur menschlicher Beziehungen. In moderner wissenschaftlicher Terminologie könnte man sagen, dass Kultur bei Spengler ein System von Annahmen ist, die von einer Gesellschaft akzeptiert werden. Kultur ist ein Garant sozialen Ordnung, der auf Grundlage eines akkumulierten Wissensvorrats die Gesetze des gesunden Menschenverstands — die notwendigen Normen des eigenen Lebens — verkörpert.
Durch die Analyse historischer Formen menschlicher Lebensweise in verschiedenen Epochen und geografischen Regionen und die konsequente Einführung des Begriffs “Kultur“ in den wissenschaftlichen Diskurs legte Spengler die Grundlagen für eine historisch neue Ontologie — die Ontologie der Kultur oder eine “Philosophie des Lebens der Kultur“. Dies bezeichnete man später als “Leben-in-der-Kultur“ und definierte Kultur als die spezifische Form der Lebensführung des historischen Menschen.
Über die Quelle der Entstehung neuer Kulturen
Jede Kultur ist historisch und einzigartig. Doch wie lässt sich eine Kultur erkennen, insbesondere dann, wenn sie noch nicht geboren ist? (Spengler, der das Gebäude seiner Kulturwissenschaft errichtet, spricht im Namen der Wissenschaft und fordert, dass seine Theorie als Wahrheit anerkannt werde.) Da Kultur nichts anderes ist als ein lebender Organismus und die Geschichte der Kultur die Biografie dieses Organismus, kann man Kultur weniger erkennen, als vielmehr, indem man sich in ihr befindet, sie betrachten, erleben und durchdringen. Nur so lässt sich Kultur verstehen, was für Spengler bedeutet, die Seele einer bestimmten Kultur zu identifizieren.
Das Erleben der Kultur (Spengler spricht nicht vom Erleben-in-der-Kultur) innerhalb ihrer “metaphysischen Konturen“ gehört zu den letzten Geheimnissen des menschlichen Wesens und des bewegten Lebens überhaupt. Das Entstehen des Ich ist, wie Spengler schreibt, gleichbedeutend mit der Geburt der Weltangst. “Wenn sich vor dem Mikrokosmos der Makrokosmos entfaltet — weit, überwältigend, ein Abgrund des Fremden, durchdrungen von Licht und Sein und Streben —, dann zieht sich das kleine, einsame Ich erschrocken in sich selbst zurück.“ Ähnlich verhält sich der erwachsene Mensch, und ähnlich verhält sich auch eine junge Kultur.
Eine junge oder ungeborene Kultur, etwa die vorpetrinische, musste beim Aufeinandertreffen mit einer reifen Kultur, wie der westeuropäischen am Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts, vor deren Macht und Pracht erstarren und verstummen. Die europäische Kultur erschien der jungen Kultur als ein blendend strahlendes Vorbild, nach dem diese zu streben hoffte, dessen Niveau sie zu erreichen suchte.
An diesem Punkt bedient sich Spengler unverhohlen des Platonismus, wodurch der Gedanke an das Gleichnis der Höhle aufkommt. Folgt man dieser Logik, so ergibt sich, dass der Untergang einer Kultur notwendig zur Entstehung einer neuen führt. In der Geschichte der Menschheit wird es immer “kulturelle Vorbilder“ geben, die das “Sommerstadium“ einer Kultur symbolisieren, sowie Kulturen, die abseits oder zumindest entfernt von der “Hauptstraße der Geschichte“ stehen.
Das Streben, einer reifen Kultur ähnlich zu werden, das Bestreben jedes Volkes, sein eigenes “Sommerstadium“ zu erreichen — dies ist die Quelle des “Durchbruchs“ einer neuen Kultur. Es ist “der erste Gedanke, mit dem jede Kultur bisher zu ihrem Selbstbewusstsein gelangte.“ Darin zeigt sich die “Internationalität“ der Kulturen. Das Erreichen des “Sommers“ durch eine Kultur stellt andere Kulturen vor die Frage nach dem Sinn der Geschichte.
Der Glanz des “Sommers“ fasziniert, sodass junge Kulturen glauben, sie hätten außerhalb der Geschichte gelebt, ohne Sinn für Geschichte und Leben. Das gesamte Leben einer jungen Kultur erscheint als Nichts, woraus sich eine erbarmungslose Kritik an der “Diesseitigkeit“ ergibt, eine Verachtung der den Menschen umgebenden Wirklichkeit — und daraus entspringen revolutionäre Bewegungen.
Dieser Prozess ist endlos — ein Punkt, an dem Spenglers Orientierung an der “Philosophie des Lebens“ besonders deutlich wird, die sich in seiner Sichtweise zur “Philosophie des Lebens der Kultur“ transformiert.