Ein Leitfaden zur Philosophie: Ein Blick auf Schlüsselkonzepte und Ideen - 2024
Soziale Folgen des Übergangs zum Postindustriellen
Das postindustrielle Gesellschaft
Gesellschaft, Geschichte und Kultur
Der seit Mitte der 1970er Jahre einsetzende Übergang vom Industriekapitalismus und Modernismus hin zum Postindustrialisierung und Postmodernismus führte zu tiefgreifenden sozialen Veränderungen in allen Bereichen der Gesellschaft. Diese Veränderungen waren von ambivalentem Charakter und wurden daher unterschiedlich wahrgenommen und bewertet. Zunächst dominierte eine optimistische Sicht auf das Geschehen. Daniel Bell bewertete den Postindustrialismus in seinen Arbeiten der 1970er Jahre äußerst positiv und hob vor allem dessen Vorteile hervor: die innovative Ausrichtung der Produktion, die wachsende Bedeutung von Bildung und Wissen, die Umwandlung von Wissen in ein “kollektives Gut“, eine gerechte Meritokratie, die Unterordnung der Wirtschaft unter das soziale und kulturelle Leben, die Festigung des Wissensarbeiters als Hauptklasse, die Transformation des Ethos der Wissenschaft in das Ethos der gesamten Gesellschaft sowie die Dominanz der Beziehungen zwischen Menschen und nicht zwischen Mensch und Natur.
Einen ähnlichen Standpunkt vertrat der englische Soziologe Anthony Giddens. Er definierte den Postmodernismus als “Post-Armut-System“ und wies auf positive Aspekte wie die Humanisierung der Technologie, ein mehrdimensionales demokratisches Volksteilnehmen an der Politik und die Entmilitarisierung hin.
Ab Mitte der 1980er Jahre änderte sich jedoch die Einstellung zur Entstehung einer neuen Gesellschaft merklich. Der frühe Optimismus wich zunehmend einer zurückhaltenderen, sogar kritischen Beurteilung, die Enttäuschung, Verwirrung und Besorgnis zum Ausdruck brachte. Die neue Gesellschaft wurde nun nicht nur als Gesellschaft des Wissens, der Information und der Dienstleistungen verstanden, sondern auch als eine Gesellschaft des Risikos, der Bedrohungen, der Ängste und Gefahren. Viele Soziologen berichteten von wachsender Massenarbeitslosigkeit, zunehmender sozialer Ungleichheit, einer “neuen Armut“ und der Dissoziation sozialer Verhältnisse. So stellte der deutsche Soziologe Ulrich Beck in seinem Werk Gesellschaft der Risikos (1986) das Risiko in den Mittelpunkt, wobei er betonte, dass das Risiko nicht mehr von den Menschen, sondern von der natur-sozialen Realität getragen wird. Diese Risiken sind vom Menschen nicht mehr beherrschbar, sie hängen nicht mehr von seiner Waghalsigkeit oder Nachlässigkeit ab. Alle sozialen Gruppen und Kategorien sind Risiken ausgesetzt, die die Grundlagen des Lebens untergraben und die Gefahr der Selbstvernichtung der Zivilisation in sich tragen. Im neuen gesellschaftlichen Rahmen ist die Produktion von Wohlstand untrennbar mit der Produktion von Risiken verbunden, und die Herstellung und Verteilung von Risiken gewinnt eine zentrale Bedeutung in der Gesellschaft. Beck verweist auf das Verschwinden traditioneller sozialer Formen, was zu einer Zersetzung und Auflösung sozialer Bindungen führt.
Der französische Soziologe Jean Baudrillard ging noch weiter. Er zeichnete ein apokalyptisches Bild einer Gesellschaft, in der anonyme und entpersonalisierte Massen alles verschlingen, was den Inhalt des Begriffs “sozial“ ausmacht: den Staat, die Geschichte, das Volk, die Klassen, die Politik, die Kultur, den Sinn, die Freiheit. Baudrillard verglich diese Massen mit einem riesigen “Schwarzen Loch“, in das das Soziale hineinfällt. Das “stille Mehrheitsvolk“ stellt für ihn keine soziale Kategorie mehr dar, sondern eine rein statistische. Baudrillard betrachtete zwei Jahrhunderte verstärkter Sozialisation des Menschen als gescheitert und diagnostizierte das “Erschöpfen und Verfallen der Sozialität“. Obwohl es für diesen Standpunkt einige Gründe gibt, so sind doch die darin enthaltenen Extremen und Übertreibungen nicht zu übersehen.
Ein differenzierterer Ansatz findet sich im Werk des französischen Ökonomen Jean Généreux, der feststellt: “Nie war unsere Fähigkeit, Reichtum zu produzieren, so gewaltig, noch nie war unsere Unfähigkeit, diesen Wohlstand zum Wohl aller Menschen zu lenken, so offensichtlich.“
Die sich herausbildende soziale Realität ist in der Tat zweigeteilt und widersprüchlich. Einerseits zeigt sich ein Anstieg der wirtschaftlichen Effizienz und die Erweiterung der privilegierten und gut bezahlten Schichten, andererseits erleben die meisten nichtprivilegierten Gruppen eine wirtschaftliche Stagnation, eine Verschlechterung ihrer sozioökonomischen Lage.
Diese Situation ist durch zahlreiche Ereignisse und Prozesse bedingt, von denen einer der wichtigsten der Abbau des Wohlfahrtsstaates ist, der auch als sozialer, sozialversicherungs- oder keynesianischer Staat bekannt ist und sich aktiv in alle Lebensbereiche der Gesellschaft einmischte. Dies führte zu einer neuen Beziehung zwischen Staat und Markt, die bedeutende soziale Veränderungen nach sich zog.
Die Wurzeln des Wohlfahrtsstaates reichen bis ins mittlere 19. Jahrhundert zurück und sind eng mit der Verschärfung sozialer und klassenspezifischer Konflikte sowie der Entstehung und Verbreitung sozialistischer Ideen verbunden. Die erste Form des Sozialstaates entstand in Deutschland in den 1880er Jahren unter Bismarck, der das System der sozialen Absicherung ausbaute und erweiterte, indem er Gesetze zur Arbeitsunfallversicherung und Altersrenten für Arbeiter und Bauern erließ. Ein umfassenderes Eindringen des Staates in die Wirtschaft und andere Bereiche fand jedoch in vielen Ländern nach dem Ersten Weltkrieg statt.
Die zweite Variante des Sozialstaates entstand in Großbritannien durch die Bemühungen von Lord Beveridge, der 1942 einen Entwurf für ein System sozialer Absicherung vorlegte. 1944 wurde der Plan für die Vollbeschäftigung der Arbeitskräfte und für kostenlose Gesundheitsversorgung verabschiedet.
Ein entscheidender Beitrag zur Konzeption des Wohlfahrtsstaates wurde von John Maynard Keynes geleistet. In seiner Hauptschrift Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes (1936) legte er die Theorie der staatlichen Regulierung wirtschaftlicher und sozialer Beziehungen dar. Keynes erklärte seinen Ansatz mit den Worten: “Ich lege den Hauptwert auf die Erhöhung der Kaufkraft, die durch staatliche Ausgaben finanziert wird.“ Das Hauptaugenmerk von Keynes lag auf der Ankurbelung des Konsums und der Erhöhung des Lebensstandards. Diese Ausrichtung bildete über Jahrzehnten die Grundlage der Wirtschaftspolitik vieler westlicher Staaten. Ebenso war Keynes an der praktischen Umsetzung der neuen Wirtschaft beteiligt: 1944 gründete er gemeinsam mit Harry White die Weltbank und den Internationalen Währungsfonds (IWF), die Hauptorgane des neuen internationalen Währungssystems, das bis Mitte der 1970er Jahre erfolgreich arbeitete. In den westlichen Ländern wurde ein zuvor unbekanntes, stabiles jährliches Wachstum der Industrieproduktion und des Welthandels (im Durchschnitt 5,6 % bzw. 7 %) erzielt.
Es haben sich drei Hauptmodelle des Wohlfahrtsstaates herausgebildet: das liberale, das sozialdemokratische und das konservativ-korporative Modell. Die Vereinigten Staaten gehörten zu den ersten, die das liberale Modell im Rahmen des von Franklin D. Roosevelt verkündeten “New Deal“ verwirklichten. Das zweite Modell fand vor allem in den skandinavischen Ländern — Schweden, Dänemark und teilweise Norwegen — Gestalt. Dieses Modell stimmt mit dem Projekt von William Beveridge überein. Es entstand jedoch vor dem genannten Projekt und vor allem wurde es konsequent und vollständig umgesetzt. Das dritte Modell folgt der Linie Bismarcks und ist charakteristisch für die kontinentalen europäischen Länder: Deutschland, Italien und in gewissem Maße Frankreich.
Die genannten Modelle unterscheiden sich vor allem durch die Methoden, mit denen der Staat seine Funktion der sozialen Absicherung erfüllt. Die Praxis kennt drei solche Methoden: die wirtschaftliche, die soziale und die familiäre. Das liberale Modell räumt der wirtschaftlichen Methode ohne Einschränkung den Vorrang ein. Ihr liegt eine primäre Verteilung zugrunde, die durch die direkte Beteiligung des Menschen am Produktionssystem bestimmt wird. Dieses Modell geht von einem hohen Beschäftigungsniveau aus. Die soziale Verteilung spielt ebenfalls eine Rolle, nimmt jedoch eine eher bescheidene Stellung ein.
Das sozialdemokratische Modell des Wohlfahrtsstaates setzt ebenfalls auf ein hohes Beschäftigungsniveau, auch auf die Beschäftigung von Frauen. Gerade der breite Zugang von Frauen zum Arbeitsmarkt entlastet die soziale Absicherung, macht sie effektiv. Eine besonders wichtige Rolle spielt die soziale Umverteilung der Einkommen, die auf den universellen sozialen Rechten der Bürger basiert. Die vom Staat bereitgestellten Sozialleistungen decken nahezu alle denkbaren Risiken ab und sind von beträchtlicher Bedeutung. Ebenso wichtig und umfassend ist der Bereich sozialer Dienstleistungen, insbesondere die Unterstützung bei der Betreuung, Pflege, Erziehung von Kindern und die Sorge für ältere Menschen. All dies macht das skandinavische Modell besonders attraktiv.
Das konservativ-korporative Modell geht nicht von einem hohen Beschäftigungsniveau aus. Das System der sozialen Absicherung wird hier durch Sozialbeiträge auf Löhne und Gewinne der Arbeitgeber finanziert. Die soziale Umverteilung erfolgt in geringeren Maßstäben als im skandinavischen Modell. Entscheidend für den Erwerb sozialer Rechte ist der berufliche Status. Auch der Familienstatus spielt eine große Rolle, ebenso wie die familiäre Umverteilung. Die Rechte der Arbeitenden gelten für deren Familie, und die Anzahl der Familienmitglieder bestimmt sowohl die Zahl als auch die Höhe der möglichen Leistungen. Faktisch ist die soziale Versicherung auf die Unterstützung des Familientyps ausgerichtet, bei dem der Mann die Hauptrolle spielt.
Die Blütezeit des Wohlfahrtsstaates fiel auf die Jahre 1945 bis 1975, die der französische Soziologe Jean Fourastié als “das glorreiche Dreißigjährige“ bezeichnete. Nach Ansicht des britischen Historikers P. Johnson war diese Zeit “eine der bemerkenswertesten in der Geschichte“, eine Zeit des “beispiellosen sozialen und wirtschaftlichen Aufschwungs“. Der schwedische Soziologe Gøsta Esping-Andersen nannte sie das “Goldene Zeitalter des Kapitalismus“.
Die Grundlage des Wohlfahrtsstaates bildete ein historischer Kompromiss zwischen Arbeit und Kapital, ein Korporativvertrag zwischen dem Staat, den Unternehmen und den Gewerkschaften. Dadurch war es ihm möglich, ein wirtschaftliches Wachstum zu gewährleisten, das in seiner Stabilität und Dauerhaftigkeit ohne Beispiel war, vollständige Beschäftigung zu sichern, steigende Einkommen zu ermöglichen, das Wohlstandsniveau zu heben, die Bildung zu fördern und das Vertrauen in die Zukunft zu stärken.
Doch ab den frühen 1970er Jahren begann dieser Staat ins Stocken zu geraten. Verschiedene Ursachen trugen zur Schwächung des Wohlfahrtsstaates bei: übermäßige Militärausgaben, steigende Ausgaben für den Umweltschutz, die weltweite Energiekrise von 1973, der Wettbewerb billiger Waren aus Japan und Fehler in der Finanz- und Wirtschaftspolitik. Der wirtschaftliche Abschwung und der Gewinnrückgang zwangen das Kapital dazu, den bestehenden Kompromiss zu überdenken und der Gesellschaft einen neuen Vertrag aufzuzwingen, bei dem die Positionen der Gewerkschaften und der Arbeitnehmer deutlich geschwächt wurden.
Ein Wendepunkt trat 1979 ein, als Margaret Thatcher Premierministerin von Großbritannien wurde. Sie verkündete eine neue wirtschaftliche und soziale Politik, die den Namen Neoliberalismus oder Ultraliberalismus, Marktfundamentalismus, erhielt. Ihre Hauptziele waren: das Unterdrücken der Gewerkschaften, die Privatisierung, der Abbau des Wohlfahrtsstaates, die vollständige Freiheit des Marktes bei minimaler staatlicher Intervention. Diese Ziele wurden weitgehend erreicht.
Mit der Wahl von Ronald Reagan zum Präsidenten der USA im Jahr 1980 folgte das Land dem Weg Großbritanniens. Allmählich begannen auch Länder, in denen Sozialdemokraten an der Macht waren, wie Frankreich, diesen neoliberalen Kurs zu verfolgen. Diese Entwicklung setzte 1981 ein, als der Sozialist François Mitterrand zum Präsidenten gewählt wurde, und sie dauert im Wesentlichen bis heute an.
Im Jahr 1997 kehrte in Großbritannien nach 18 Jahren konservativer Herrschaft die Labour Party unter Tony Blair an die Macht. Während des Wahlkampfs sprach Blair mehrfach davon, die grundlegenden Prinzipien zu modernisieren, versprach Steuererhöhungen auf hohe Einkommen, die Indexierung des Mindestlohns und der Arbeitslosenhilfe, eine Erhöhung der Sozialausgaben und die Verbesserung des Lebensstandards der Ärmsten. Doch nach der Machtübernahme verwandelte sich der erklärte “Dritte Weg“ in eine deutliche Verschiebung nach rechts, und die Versprechungen im sozialwirtschaftlichen Bereich wurden vergessen. Anstelle der Einkommensgleichheit begann Blair, das traditionelle Thema der Chancengleichheit weiterzuentwickeln. Er verzichtete auch auf zwei wesentliche Elemente der Nachkriegs-Sozialdemokratie: die Intervention in die Industriepolitik und die Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften. Insgesamt setzte die Regierung Blair die neoliberale Politik der vorherigen konservativen Regierungen fort.
Unter dem Einfluss neoliberaler Reformen hat der Kapitalismus tiefgreifende Veränderungen erfahren. Der frühere Kapitalismus war im Wesentlichen fordistisch-keynesianisch. Er zeichnete sich durch einen fordistischen Ansatz zur Lohnpolitik aus, der ein kontinuierliches und gleichmäßiges Wachstum der Löhne auf der Grundlage eines Kompromisses zwischen Arbeit und Kapital vorsah. Der Kapitalismus stützte sich auf eine aktive Wirtschaftspolitik, die auf den keynesianischen Prinzipien der staatlichen Regulierung basierte, welche das Wachstum der Nachfrage nach produzierten Gütern und die Steigerung der Kaufkraft der Bevölkerung sicherstellten. Das Finanzsystem beruhte auf Bankkrediten an Unternehmen zu niedrigen Zinssätzen, was günstige Bedingungen für die Ansammlung von Industriekapital schuf. Schließlich verfügte der Kapitalismus über einen Wohlfahrtsstaat, dessen Kern die Sozialversicherung bildete, die eine Umverteilung des Reichtums vornahm und die Solidarität zwischen sozialen Gruppen sicherte. Der Staat trat als zentraler Kitt für alle Strukturen und die Gesellschaft als Ganzes auf.
Liberale machten dem Staat Vorwürfe, er sei ihrer Meinung nach sperrig, teuer und ineffizient, fehle es an Flexibilität und störe mit seinem Eingreifen in die Wirtschaft die feinen Marktmechanismen. Sie warfen ihm vor, die individuelle Initiative zu ersticken, die Bürger in passive und verantwortungslose Menschen zu verwandeln, die auf eine “soziale Man-na“ warteten und keine angemessenen Anstrengungen bei der Arbeitssuche unternahmen. Zudem wurde ihm Korruption vorgeworfen und die Tatsache, dass der Staat nicht mehr Ausdruck des allgemeinen Interesses, sondern ein Zentrum persönlichen Vorteils geworden sei. Gegen den Staat wurde der Standpunkt erhoben, dass das Verwaltungssystem veraltet sei und der monozentrische Charakter der Macht der Vergangenheit angehöre, zugunsten einer Dezentralisierung der Macht.
Die umfassende Privatisierung von Industrieunternehmen, die von den Neoliberalen durchgeführt wurde, ließ dem Staat vor allem die Bereiche Energie, Verkehr und Kommunikation. Dies schwächte das wirtschaftliche Gewicht des Staates erheblich und entzogen ihm wichtige Steuerungsinstrumente. Es scheint, dass in naher Zukunft eine vollständige Liquidation des Staatsektors erfolgen wird.
Die Privatisierung des Bankensektors und die Liberalisierung der Kapitalmärkte führten zu einer nie dagewesenen Stärkung der Rolle der Finanzmärkte. Das System der Unternehmensfinanzierung änderte sich grundlegend: Statt der früheren Bankkredite erfolgte die Finanzierung über die Ausgabe von Aktien und Anleihen durch Unternehmen. Dies führte wiederum zu einer Schwächung der Kontrolle des Staates über die Finanzpolitik. Der Anteil des Unternehmensgewinns wuchs, während der Anteil des Lohns sank.
Die zunehmende Globalisierung, die Internationalisierung wirtschaftlicher Austauschprozesse und die Integration von Finanzmärkten und -strömen, das Aufkommen supranationaler Institutionen und Verwaltungstrukturen trugen erheblich zur Schwächung des Wohlfahrtsstaates bei. Ein Symbol für die Veränderungen im Währungsbereich war die Einführung des Euro. Das Gleiche lässt sich über die Steuerpolitik sagen, in der das Handlungsspielraum für die Länder der Europäischen Union (EU) erheblich eingeschränkt wird. Die allgemeine Ausrichtung der EU in der Finanz- und Wirtschaftspolitik besteht darin, alle Regulierungen zu entfernen, die den freien Wettbewerb behindern.
Neoliberale Reformen verliehen dem Kapitalismus eine neue Qualität. In der früheren Modell des Kapitalismus war der Manager die zentrale Figur unter den drei Hauptakteuren der Produktion — Managern, Aktionären und dem Lohnpersonal. Daher wurde der Kapitalismus häufig als “Manager-Kapitalismus“ bezeichnet. Heute jedoch tritt der Aktionär an die Stelle des Managers. Entsprechend wurde der Kapitalismus zu einem Aktionärskapitalismus, bei dem die Finanzmärkte eine zentrale Rolle spielen.
Wirtschaftlich gesehen brachte die neoliberale Modernisierung des Kapitalismus positive Ergebnisse. In sozialer Hinsicht hingegen sind die Ergebnisse der Neoliberalisierung weit von eindeutig positiv. In den europäischen Ländern hat sich die soziale Situation im Vergleich zu der Zeit des “glorreichen dreißigjährigen Jahrhunderts“ insgesamt verschlechtert.
Das nach den neoliberalen Reformen entstandene “Staat“ wird als bescheiden, schwach, minimal bezeichnet. Einige Politiker bezeichnen diesen Staat als “Staat der realen Möglichkeiten“ (Enabling State), wobei sie damit meinen, dass diese Möglichkeiten wiederum bescheiden sind. Tony Blair stellte beispielsweise anstelle des früheren Wohlfahrtsstaates das Modell des “Staats der allgemeinen Arbeit“ vor. Die Hauptaufgabe eines solchen Staates sieht er darin, den Menschen zu ermutigen oder nötigen, aktiver nach Arbeit zu suchen oder jede angebotene Arbeit anzunehmen.
Es ist zu beachten, dass der Übergang zu einem “bescheidenen“ Staat nicht bedeutet, dass die Tätigkeiten des Staates praktisch eingestellt wurden. Der Staat erfüllt nach wie vor wichtige Funktionen, wie die Tatsache zeigt, dass das Gesamtvolumen der Staatsausgaben fast unverändert bleibt, ebenso wie die Zahl der Mitarbeiter im Staatsapparat. Zu seinen Aufgaben gehören die Wahrung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Im Zuge der Globalisierung gewinnt der Staat zunehmend an Bedeutung beim Schutz nationaler Interessen. Der Staat hat auch einige regulierende Funktionen in der Wirtschaft beibehalten: Er führt Kontrollen durch, stellt Prognosen auf und mildert negative Erscheinungen im wirtschaftlichen Bereich ab. Einige Funktionen der sozialen Sicherheit bleiben ebenfalls erhalten: Der Staat richtet seine Aktivitäten nun an eine strikt definierte Zielgruppe und leistet selektive Hilfe, wobei er sich auf die am stärksten benachteiligten Menschen konzentriert. Die Sozialpolitik ist gezielt und richtet sich an bestimmte Adressaten.
Kurz gesagt, es handelt sich um einen neuen, anderen Staat, der seine Funktionen nicht mehr im selben Umfang und auf dem gleichen Niveau wie zuvor erfüllt. Dies wurde zu einem der Hauptfaktoren, die bedeutende soziale Veränderungen und Auswirkungen nach sich zogen, die in gewissem Maße alle wesentlichen Parameter menschlicher Existenz berührten: soziale Struktur, Arbeit, Einkommen und Konsum, Beschäftigung und Arbeitslosigkeit, Bildung, soziale Sicherheit und andere.
Im Hinblick auf die soziale Struktur vertreten viele moderne Soziologen die Auffassung, dass soziale Klassen heute nicht mehr existieren. So stellt U. Beck fest, dass der nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende Prozess der Individualisierung zu einer Aufweichung und Zerstörung großer sozialer Gruppen — Klassen, Stände, Schichten — führt. Während in England und Frankreich die soziale Klassenzugehörigkeit im Alltag noch erkennbar ist, befindet sich Deutschland “schon jenseits der Klassengesellschaft“. Beck räumt ein, dass das Bild der Klassengesellschaft, viele ihrer Merkmale wie soziale Ungleichheit, Armut und Arbeitslosigkeit, weiterhin bestehen, jedoch eine klassenlose Form annehmen. Die gesellschaftlichen Probleme treten nun als individuelle Phänomene auf. Daher betrifft “Arbeitslosigkeit und Armut nicht eine Gruppe, nicht eine Klasse oder Schicht, sondern das Individuum“. Der Einzelne erlebt diese als “persönliches Schicksal“.
Nach Beck teilen auch andere soziale Formen, darunter die Familie, das Schicksal der Klassen und Schichten. Die Individualisierung führt zur Zerstörung traditioneller familiärer Beziehungen. Die “klassische“ Familie durchlebt einen sich vertiefenden Krisenprozess. In den USA zerbrechen die Hälfte der registrierten Ehen, in Deutschland ist es ein Drittel. Fast ebenso viele Menschen streben nicht mehr nach festen Familienbindungen. Es entsteht eine Form der vertraglichen Familie auf Zeit. Immer mehr Menschen bevorzugen es, alleine zu leben.
Die Individualisierung dringt auch in bestehende Familienstrukturen ein, denn selbst innerhalb der Familie sieht heute jeder isoliert fern. Der alleinstehende Mann und die alleinstehende Frau — dies sind die Hauptfiguren der modernen Gesellschaft. Es entsteht eine eigenartige Situation, in der der Einzelgänger, sei es er oder sie, “zu einer Einheit der sozialen Reproduktion“ wird. Beck sieht die Hauptursache dieser Situation in der Tatsache, dass der bestehende Arbeitsmarkt sich von den Bedürfnissen der Familie, der Ehe, der Mutterschaft, der Vaterschaft und Partnerschaft abkoppelt. Dies geschieht, weil die Berücksichtigung solcher Faktoren den Markt weniger flexibel und effizient macht und sich negativ auf die Wettbewerbsfähigkeit auswirkt.
Mit der Expansions des Marktes und der Fernsehwelt ruft die Individualisierung auch umgekehrte Phänomene hervor: Die Standardisierung und Vereinheitlichung der Lebensformen. Alle leben in standardisierten Wohnungen, benutzen vereinheitlichte Produkte, folgen allgemein akzeptierten Meinungen und Einstellungen, schauen die gleichen Fernsehsendungen — von Honolulu bis Moskau und Singapur. So bildet sich, in den Worten von Beck, ein hybrides Gebilde, eine “standardisierte kollektive Existenz der isolierten Massen-Eremiten“. Der übernationale, überkulturelle, überklassische, überfamiliale Lebensstil breitet sich aus. Die Menschen leben in einer Gesellschaft, die jegliche Gemeinschaft und Kommunikation verloren hat.
Der französische Soziologe L. Chevalier äußert sich in seinen Urteilen differenzierter. Er erkennt an, dass es keine sozialen Klassen mehr im marxistischen Sinne gibt, in dem diese nach ihrer Beziehung zu den Produktionsmitteln unterschieden werden. Zugleich stellt er fest, dass Klassen weiterhin im Weber’schen Sinne existieren, in dem sie eher als soziale Schichten auftreten. Diese Schichten nehmen ungleiche Positionen im Produktionssystem ein, bewahren eine bestimmte sozioökonomische, politische und kulturelle Identität und bleiben teilweise geschlossen, “undurchdringlich“.
Es ist nicht zu übersehen, dass die soziale Struktur insgesamt immer amorpher und verwischter wird, da die Mittelschichten, mit ihren unklaren sozioprofessionellen Merkmalen, wachsen. Besonders betrifft dies die ehemaligen sogenannten Mittelschichten, die ihre Bestimmtheit verlieren. Der obere Fachkräfte- und Berufsschichtanteil wächst, ebenso wie die Zahl der Aktionäre, was jedoch nicht immer zu einer Veränderung ihres sozialen Status führt, da die Hauptquelle des Einkommens für viele Aktionäre nach wie vor das Gehalt bleibt.
Insgesamt stellt sich die größte Gruppe als die der Lohnabhängigen heraus, da die unabhängigen Berufe — Landwirte, Handwerker, Kaufleute — allmählich verschwinden. Was die Arbeiter betrifft, so haben sich die Prognosen über ihr baldiges Verschwinden nicht bestätigt. In den letzten 40 Jahren blieb ihr Anteil an der erwerbstätigen Bevölkerung der EU im Durchschnitt bei etwa 20—30%, trotz der beschleunigten Entwicklung des Dienstleistungssektors.
Das soziale Gefälle ist keineswegs verschwunden. Vielmehr nimmt es neue Formen an. So war es in den ersten Nachkriegsjahrzehnten charakteristisch für die Entstehung von Ghettos für die Armen. Seit den 1980er Jahren ist in den USA jedoch ein Phänomen der “Enklavisierung“ zu beobachten. Dabei handelt es sich um den Bau von Vierteln für Wohlhabende in den Vororten. Heute leben mehr als 30 Millionen Amerikaner (mehr als 12% der Bevölkerung) in 150.000 geschlossenen Wohnanlagen, in denen alles Notwendige vorhanden ist: Geschäfte, Schulen, Schwimmbäder, Sporteinrichtungen usw. Ähnliche Entwicklungen gibt es in Europa, jedoch in kleinerem Maßstab.
Am anderen Ende entstehen städtische und vorstädtische Viertel, Siedlungen, in denen Armut, Gewalt, Arbeitslosigkeit, schlechte Schulbildung und andere Probleme konzentriert sind. Der französische Soziologe J. Donzelo schreibt, dass diejenigen, die irgendeine Möglichkeit haben, diese Orte verlassen wollen, um “durch Flucht vor den negativen Folgen des Zusammenlebens mit denen, die dorthin verdrängt wurden, sowie mit denen, die aus armen Ländern dorthin kommen, zu entkommen“.
Solche und andere Phänomene haben einige Soziologen dazu veranlasst, von einer möglichen Rückkehr der Klassenordnung zu sprechen. L. Chevalier etwa glaubt, dass die Klassengesellschaft eher im Bewusstsein der Menschen auseinanderfällt als in der realen Wirklichkeit. Eine seiner Arbeiten trug den Titel “Die Rückkehr der sozialen Klassen?“. Auch U. Beck schließt diese Möglichkeit nicht aus. Einige Autoren sprechen sogar von einer Rückkehr zum Klassenkampf. Der seit fast hundert Jahren anhaltende Streit über die Existenz von Klassen ist also noch längst nicht beendet.
Jedenfalls ist bereits offensichtlich, dass die Prognosen einiger Ökonomen und Soziologen über das Verschwinden der Lohnarbeit in ihrer bisherigen Form aufgrund der Automatisierung und neuer Technologien nicht bestätigt wurden. Arbeit bleibt das Hauptfundament und das organisierende Prinzip der Gesellschaft, der zentrale Weg der Sozialisation des Menschen. Gleichzeitig haben jedoch sowohl der Arbeitsmarkt als auch die Arbeit selbst wesentliche Veränderungen erfahren.
Zunächst ist die “Re-Kommerzialisierung“ der Arbeit hervorzuheben. Im “glorreichen dreißigjährigen Zeitraum“ war Arbeit aufgrund staatlicher Regulierung und sozialer Absicherung teilweise von der Logik des Marktes entkoppelt. Die Abhängigkeit der Arbeitskräfte von der Marktkonjunktur wurde erheblich verringert. In Japan setzte sich sogar die lebenslange Anstellung von Arbeitskräften durch. Doch seit den 1980er Jahren dringt die Marktlogik immer stärker in den Bereich der Arbeitsbeziehungen ein. Der Arbeitsmarkt wird flexibler, instabiler, unorganisierter. Das Risiko, den Arbeitsplatz zu verlieren, wächst praktisch für alle. Der Wert der Arbeit als Ware sinkt. Arbeit schützt oft nicht vor Armut, insbesondere für junge Menschen.
Seit Mitte der 1970er Jahre vollzieht sich in den meisten entwickelten Ländern ein Übergang von Vollbeschäftigung zu massenhafter Arbeitslosigkeit. Die Verschärfung des Beschäftigungsproblems ist auf viele Ursachen zurückzuführen. So ist in Frankreich die erwerbstätige Bevölkerung in einem Vierteljahrhundert (1974—2000) um 4,4 Millionen gewachsen, während die Zahl der neuen Arbeitsplätze nur um 2,7 Millionen zunahm. Diese Kluft wurde zu einer der Hauptursachen des Anstiegs der Arbeitslosigkeit. Die Situation wird zudem dadurch erschwert, dass seit Ende der 1970er Jahre Frauen zunehmend in den Arbeitsmarkt eingetreten sind. Besonders gefährdet von Arbeitslosigkeit sind junge Menschen, ungelernte Arbeitskräfte und Frauen, die 1,5-mal häufiger ihre Arbeitsstelle verlieren als Männer. Arbeitslosigkeit dauert immer länger und beträgt im Durchschnitt etwa ein Jahr, für junge und ältere Menschen sogar mehr als ein Jahr.
Arbeitslosigkeit ist längst nicht mehr nur ein Kennzeichen bestimmter sozialer Schichten oder Berufsgruppen. Heute kann sich keine Berufs- oder Altersgruppe und keine Qualifikation als immun gegen Arbeitslosigkeit betrachten. Ihre Formen haben sich verändert: Zeitarbeit, Teilzeitbeschäftigung (Kurzarbeit oder reduzierte Wochenarbeitszeit), befristete Beschäftigung, nicht gemeldete Arbeitslosigkeit, illegale Beschäftigung u.a. Diese Formen der Arbeitslosigkeit breiten sich zunehmend aus.
Das Bild des Angestellten hat sich ebenfalls gewandelt. Früher waren bei der Einstellung vor allem Qualifikation, Erfahrung und Dienstjahre entscheidend. Heute wird die “Einstellungschance“, die “Eignung“ und “Verkäuflichkeit“ der Arbeitskraft mit anderen Merkmalen verbunden: Gefragt sind vor allem Kompetenzen und Leistungsfähigkeit, die individuelle Eigenschaften des Arbeitnehmers — Wissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten sowie die Effizienz ihrer Anwendung. Früher verlangte man vom Arbeiter Gehorsam und Ausführungsvermögen, wofür er eine stabile Anstellung erhielt. Heute hat er mehr Unabhängigkeit, die es ihm ermöglicht, Initiative zu zeigen, doch eine dauerhafte Arbeitsstelle ist keine Garantie mehr.
Die Trennung zwischen qualifizierter und unqualifizierter Arbeit, die in den 1970er Jahren entstand, vertieft sich und verstärkt sich. Dabei bleibt der Anteil unqualifizierter Arbeit hoch, auch im Dienstleistungssektor, in dem zwei Drittel der Beschäftigten tätig sind. Es hat ein Übergang von der vertikal-pyramidalen zu einer horizontalen, netzwerkartigen Organisation der Arbeit stattgefunden.
Die Einstellung zur Arbeit hat sich ebenfalls verändert: Während früher vor allem Arbeitsbedingungen und Bezahlung im Vordergrund standen, rücken heute berufliche Interessen und Anerkennung, kreative Aspekte der Arbeit, die als Mittel zur Selbstverwirklichung und zur Bestätigung der beruflichen und individuellen Identität betrachtet wird, stärker in den Fokus. Arbeit wird weniger als eine auferlegte Pflicht wahrgenommen. Sie setzt mehr Selbstständigkeit, Unabhängigkeit und Flexibilität voraus. Arbeit wird zunehmend mit “humankapital“ gleichgesetzt, in dem Wissen und Kompetenz eine Schlüsselrolle spielen. Heimarbeit gewinnt zunehmend an Bedeutung.
Gleichzeitig werden die Arbeitsbedingungen immer komplexer, die Intensivierung der Arbeit nimmt zu, und das Tempo steigt. Selbstkontrolle wird immer wichtiger, geistige und psychologische Belastungen steigen, und das Gefühl einer ständigen Zeitnot breitet sich aus, was das Risiko von Stress erhöht.
Untersuchungen zur Dynamik von Einkommen und Konsum legen nahe, dass das 20. Jahrhundert, mit Ausnahme der letzten 20 Jahre, unter dem Zeichen der Angleichung der Einkommen stand. Bis Ende der 1970er Jahre wurde der Anteil der hinzugewonnenen Wertschöpfung zwischen Löhnen und Unternehmensgewinnen zugunsten der Löhne verteilt: Der Lohnanteil stieg, der Gewinnanteil sank. Die Lohnindexierung schützte die Arbeitnehmer vor Preiserhöhungen, und starke Gewerkschaften sorgten für Einkommenssteigerungen. Die Einkommensdifferenzen in der Bevölkerung wurden merklich verringert. Die einfachen Leute hatten die Zuversicht, dass sie ihren Kindern eine bessere Zukunft sichern könnten.
Seit den 1980er Jahren hat sich die Verteilung des nationalen Reichtums erheblich verändert. Sie vollzieht sich nun zugunsten der Unternehmensgewinne und zum Nachteil der Löhne. Die Lohnindexierung wurde abgeschafft. In den 1980er Jahren verlangsamte sich das Lohnwachstum spürbar, während das Gewinnwachstum der Unternehmen beschleunigt wurde. Die Annäherung der Einkommen stoppte zunächst, und dann begannen die Einkommen des wohlhabenderen Teils der Gesellschaft (20 %) schneller zu steigen, während die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung in eine wirtschaftliche Stagnation geriet. Für die am wenigsten geschützten und die Ausgeschlossenen sank der Lebensstandard drastisch. Eine “neue Armut“ trat auf und breitet sich aus.
Ähnliche Tendenzen sind im Konsumverhalten festzustellen, da dieser stark vom Einkommen abhängt. Der Erwerb von Kleidung nahm deutlich ab, der Konsum von Nahrungsmitteln verringert sich ebenfalls, und auch die Zahl der gekauften Wohnungen geht zurück. Diese Stagnation erklärt sich vor allem durch die massenhafte Arbeitslosigkeit und die Ungewissheit über die Zukunft, die die Menschen dazu drängt, mehr an Ersparnisse zu denken.
Marktwirtschaftliche Tendenzen haben auch die Kulturbranche erfasst. Die Kulturindustrie hat ihre Produktionskapazitäten weiter ausgebaut. Die sich verstärkende kulturelle Globalisierung trägt zur Verbreitung der amerikanischen Massenkultur bei. Die Zahl der Menschen, die Bücher lesen, insbesondere hochwertige Literatur, nimmt ab. Das Lesen als Freizeitbeschäftigung verliert an Bedeutung zugunsten audiovisueller Kommunikationsmittel: Fernsehen, Radio, Videospiele. Der Fernsehkonsum und das Radiohören beanspruchen bei den Menschen mehr als 43 Stunden pro Woche — mehr, als sie mit Arbeit verbringen. Gleichzeitig steigt das Interesse an der Hochkultur. Die Zahl der Besuche in Theatern, Museen, Ausstellungen, Bibliotheken, Zirkussen sowie bei historischen und religiösen Denkmälern nimmt zu.
Eine der Hauptstützen der modernen Gesellschaft ist die Bildung. Ihre Bedeutung war immer schon enorm, und in der heutigen Zeit ist ihre Rolle noch weiter gewachsen. Der amerikanische Wissenschaftler C. Kerr merkt an, dass im 19. Jahrhundert die Entwicklung der Gesellschaft durch die Eisenbahnen bestimmt wurde, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch das Auto und in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die Industrie des Wissens. Das Bildungssystem beschäftigt sich mit Wissen, das, indem es zu Information wird, Rohmaterial für moderne Technologien und die Produktion liefert. Bildung formt das “Humankapital“, das Wissen und Fähigkeiten umfasst und in seiner Bedeutung mit finanziellem Kapital gleichgesetzt wird.
In den 1960er Jahren nahm die Entwicklung der Bildung explosionsartige Ausmaße an. Sie wurde zum Hauptfaktor für das Wirtschaftswachstum. In den USA wuchs die Zahl der Lehrer in den Schulen innerhalb von 20 Jahren (1950—1970) um das 2,3-fache; noch beeindruckender war das Wachstum in der Hochschulbildung: Innerhalb von 15 Jahren (1960—1975) stieg die Zahl der Colleges und Universitäten um das 1,5-fache, und die Zahl der Studenten nahm um das 2,6-fache zu. In dieser Zeit wurde fast jede Woche eine neue Hochschule eröffnet. Dasselbe geschah in anderen westlichen Ländern. In Großbritannien verdoppelte sich innerhalb eines Jahrzehnts (1960—1970) die Zahl der Studienplätze an Universitäten. Die Ausgaben für Bildung betrugen hier 10 % des Budgets, in Kanada und Deutschland 16 %.
Der Zeitraum des “glorreichen Dreißigjährigen“ zeichnet sich auch durch die Demokratisierung des Bildungswesens aus. Universitäten wurden für Kinder aus einfachen Familien zugänglich. In Deutschland betrug 1951 der Anteil der Kinder aus Arbeiterfamilien an den Hochschulen 4 %, während dieser Anteil 1981 auf 17,3 % anstieg. Es verstärkte sich der Trend zur Feminisierung der Bildung: 1960 lag der Anteil der Frauen an den Hochschulen in Deutschland bei 25 %, 1975 waren es bereits 34 %. Es war gerade die Bildung, die soziale Mobilität ermöglichte, den Übergang von einer sozialen Kategorie in eine höhere. Sie war ein effektives Mittel zur Verringerung sozialer Ungleichheit. Durch die Bildung wirkte der sogenannte “soziale Aufzug“, dessen Eintrittskarte das Bildungsdiplom war, das den Aufstieg in die höchsten Etagen der sozialen Hierarchie ermöglichte.
Die herausragende Bedeutung der Bildung im Allgemeinen blieb bis heute erhalten. Die Gesellschaft wird oft als eine Gesellschaft des Wissens und der Bildung beschrieben. Gleichzeitig haben sich jedoch sowohl die Position der Bildung als auch ihr innerer Aufbau erheblich verändert. Die Situation im Bildungswesen spiegelt, wie auch in anderen Bereichen, viele Widersprüche wider, ja, sie ist paradoxer Natur.
Der quantitative Ausbau des Bildungssystems hat praktisch aufgehört. In den USA lässt sich seit der zweiten Hälfte der 70er Jahre die Schließung von Schulen und Colleges sowie der Rückgang der Zahl der Lehrer beobachten. Das Niveau des Wissens der Absolventen von Sekundarschulen sinkt erheblich, ihr Interesse an einem Studium an Universitäten nimmt ab, da das Diplom nicht mehr die früheren sozialen Garantien bietet. Bildung verliert ihre Fähigkeit, soziale Mobilität zu gewährleisten und soziale Ungleichheit zu verringern, da in den 80er und besonders in den 90er Jahren Menschen mit Diplom oft Arbeiten mit niedriger Qualifikation angeboten oder aufgezwungen wurden.
Bildung schützt nicht mehr vor Arbeitslosigkeit, was zu einer Abwertung von Zeugnissen und Diplomen führt. Um der Arbeitslosigkeit zu entkommen, streben Studierende danach, ihre Ausbildung zu verlängern, zusätzliche Qualifikationen zu erwerben oder ihre Fähigkeiten zu verbessern. Infolgedessen entsteht eine paradoxe Situation: Zeugnissen und Diplomen wird einerseits auf dem Arbeitsmarkt immer weniger Bedeutung beigemessen, andererseits sind sie zunehmend notwendig, um die begehrten, aber wenigen Arbeitsplätze zu erreichen. In solchen Bedingungen kommen bei der Verteilung der Chancen auf dem Arbeitsmarkt wieder Kriterien zum Tragen, die im vorbildlichen, feudalen Gesellschaftssystem galten: Standeszugehörigkeit, Geschlecht, Weltanschauung, verschiedene Beziehungen usw.
In den letzten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hat sich die Situation im Bereich der sozialen Sicherheit in fast allen westlichen Ländern verschlechtert. Dies ist auf viele Ursachen zurückzuführen, von denen eine der Hauptgründe das Altern der Bevölkerung ist. Es führt zu einer zunehmenden Belastung der Rentensysteme. Seit den frühen 80er Jahren machen sich negative Tendenzen nicht nur im Bereich der Altersvorsorge bemerkbar, sondern auch in anderen Bereichen der sozialen Sicherheit: in der Krankenversicherung, bei Arbeitslosengeld und Kindergeld. Der Hauptgrund für die Verschlechterung der sozialen Absicherung liegt in den neoliberalen Reformen und dem Abriss des Wohlfahrtsstaates. Es fand eine Veränderung in der Struktur der Finanzierungsquellen, der Verteilung und Umverteilung des nationalen Wohlstands statt. Es geht dabei insbesondere um den Rückgang des Anteils der Unternehmensbeiträge an die öffentlichen Fonds: 1959 betrug er 77 %, 1996 nur noch 62,6 % und 1999 60 %. Gleichzeitig stieg der Anteil der Beiträge von Arbeitnehmern. In den Jahren 1983—2000 verlangsamte sich der Anstieg der sozialen Ausgaben als Anteil des BIP um das Vierfache im Vergleich zu 1973—1983. Der Anteil der sozialen Leistungen blieb in den Jahren 1983—1990 unverändert, begann jedoch ab 1993 zu sinken.
Die anhaltende Massenarbeitslosigkeit, die Zunahme sozialer Ungleichheit, die Verschlechterung der sozioökonomischen Lage und das wachsende Gefühl der Unsicherheit bei der überwältigenden Mehrheit der Beschäftigten führten jedoch nicht zu einem Anstieg sozialer Proteste. Im Gegenteil, zwischen 1980 und 2000 war das Niveau der Streikbewegungen etwa doppelt so niedrig wie in der vorhergehenden Periode.
Beck vertritt die Auffassung, dass die Bedrohung durch Arbeitslosigkeit die Menschen zu mehr Toleranz zwingt und daher keine politischen Katastrophen auslöst. Eine Erklärung bietet die sogenannte “Krumen-Theorie“, nach der im Rahmen der Globalisierung die Reichen den größten Teil des wirtschaftlichen Kuchens unter sich aufteilen, dieser aber so groß geworden ist, dass auch den Armen ein bisschen mehr als früher zugutekommt: Sie bekommen die Krumen vom Tisch der Reichen. Es wird auch eine spürbare Schwächung des Einflusses von Gewerkschaften und linken Parteien festgestellt, die traditionell die Initiative für Protestaktionen übernommen haben. Der psychologische Faktor verdient besondere Beachtung: In einer Gesellschaft der Individualisierung und Atomisierung des sozialen Raums steht der Mensch mit seinen Problemen ganz allein und fühlt sich hilflos. Schließlich ist auch der Umstand von Bedeutung, dass es in der Globalisierung für protestierende Menschen immer schwieriger wird, die ihnen gegenüberstehenden feindlichen Kräfte zu identifizieren, da diese immer anonymer und virtueller werden.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass in den letzten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts der Prozess des Abschwungs von den Idealen und Werten der Aufklärung in den westlichen Ländern beschleunigt wurde. Laut J. Genereux wird immer deutlicher, dass “der Fortschritt des menschlichen Verstandes nicht mehr den Fortschritt der Menschheit bestimmt“. Der moderne Verstand dient der neoliberalen Wirtschaft, in der die Hauptorientierungen Gewinn, Effizienz und Flexibilität sind, die in einem engen technologischem Rahmen verstanden werden und von breiteren sozialen und menschlichen Werten wie Gerechtigkeit, Solidarität und sozialem Frieden getrennt sind.
Trotz des niedrigen Niveaus der Protestbewegungen steigt in den westlichen Ländern die soziale Spannung, und das Bewusstsein wächst, dass die bestehenden Tendenzen, wie der französische Soziologe J. Gaultier meint, die Gefahr des “Auflösens der Gesellschaft im Markt“ in sich bergen. Deshalb wird aktiv an Konzepten gearbeitet, in denen Markt und kollektive Regulierung, Wirtschaftswachstum und Entwicklung, Effizienz und soziale Absicherung einander ergänzen.
In diesem Zusammenhang fällt das neosozialdemokratische System der Arbeitsmarkt- und Sozialversicherungspolitik auf. Es entwickelt das bekannte skandinavische Gesellschaftsmodell weiter und stützt sich auf die Ideen des Wirtschaftsnobelpreisträgers von 1998, A. Sen, der für eine enge Verbindung zwischen Wirtschaftstheorie und Ethik plädiert und die Wirtschaft als eine moralische Wissenschaft bezeichnet. Dieses Modell sieht die Beibehaltung der regulierenden Rolle des Staates vor, dessen Funktion als Koordinator der Bemühungen aller Teilnehmer am sozialen und wirtschaftlichen Leben — der Arbeitnehmer, Gewerkschaften und Unternehmer. Es basiert auf einem weiten Verständnis der Rechte und Bedürfnisse des Menschen als Arbeitnehmers, Bürgers und Individuums.