Die Problematik des Verhältnisses von Kultur und Zivilisation - Kultur und Zivilisation - Gesellschaft, Geschichte und Kultur

Ein Leitfaden zur Philosophie: Ein Blick auf Schlüsselkonzepte und Ideen - 2024

Die Problematik des Verhältnisses von Kultur und Zivilisation

Kultur und Zivilisation

Gesellschaft, Geschichte und Kultur

Die Begriffe “Kultur“ und “Zivilisation“ sind eng miteinander verknüpft, oft nicht voneinander unterschieden und werden als gleichbedeutend betrachtet. Tatsächlich gibt es viele Gemeinsamkeiten zwischen ihnen, doch es bestehen auch Unterschiede.

Der Begriff “Zivilisation“ tauchte erst im 18. Jahrhundert auf und entwickelte sich später als Gegensatz zu den weniger entwickelten Völkern, um die Überlegenheit der fortgeschrittenen europäischen Staaten zu betonen. In diesem Kontext wurde Zivilisation dem Begriff der Barbarei und Wildheit gegenübergestellt und als der höchste Entwicklungsstand der Menschheit verstanden. Die Begriffserklärung erlangte besonders in Frankreich breite Anwendung, wo sie zwei Bedeutungen annahm. Die erste betonte eine hochentwickelte Gesellschaft, die auf den Prinzipien von Vernunft, Gerechtigkeit und religiöser Toleranz beruhte. Die zweite Bedeutung, eng mit dem Begriff der Kultur verbunden, bezeichnete eine Summe bestimmter menschlicher Eigenschaften: außergewöhnliche Intelligenz, Bildung, Eleganz der Manieren und Höflichkeit.

Die Vielzahl der Perspektiven über das Verhältnis von Kultur und Zivilisation lässt sich letztlich auf drei Hauptansichten zurückführen.

  1. Kultur und Zivilisation werden als Synonyme betrachtet, ohne dass wesentliche Unterschiede bestehen. Ein Beispiel für diese Ansicht ist das Konzept des bekannten englischen Historikers A. Toynbee, der Zivilisation als eine bestimmte Stufe der Kultur ansah und dabei den geistigen Aspekt hervorhob, wobei er die Religion als das wichtigste und bestimmende Element betrachtete.
  2. Zwischen Kultur und Zivilisation gibt es sowohl Ähnlichkeiten als auch bedeutende Unterschiede. Dieser Ansicht folgte unter anderem der französische Historiker F. Braudel, Vertreter der “Annales“-Schule, der Zivilisation als Grundlage der Kultur betrachtete. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht Zivilisation, die durch geistige Phänomene betrachtet wird, wobei er die Mentalität als das wesentliche Element ansieht.
  3. Kultur und Zivilisation werden als Gegensätze dargestellt. Ein herausragendes Beispiel hierfür ist die Theorie des deutschen Philosophen O. Spengler, die er in seinem Werk Der Untergang des Abendlandes Laut Spengler ist Zivilisation eine sterbende, verfallende und zerfallende Kultur. Zivilisation folgt der Kultur “wie das Verfallene dem Werden, wie der Tod dem Leben, wie die Erstarrung der Entwicklung, wie die geistige Altersschwäche und der versteinerten Stadt dem ländlichen Leben und der kindlichen Unschuld“. Kultur hingegen ist ein lebendiger, wachsender Organismus, der Raum für die Entwicklung von Kunst und Literatur bietet und für das kreative Aufblühen einer einzigartigen Persönlichkeit sorgt. In der Zivilisation gibt es keinen Platz für künstlerische Schöpfung, sie wird von Technik und seelenlosem Intellekt beherrscht, sie nivelliert die Menschen und macht sie zu gesichtslosen Wesen.

Spenglers Buch hatte großen Erfolg. Die zugrunde liegende Theorie der vollständigen Gegensätzlichkeit und Unvereinbarkeit von Kultur und Zivilisation stieß jedoch auf berechtigte und überzeugende Einwände. Besonders die Vorstellung vom unvermeidlichen und nahen Untergang des Westens wurde stark kritisiert.

Die ersten beiden Ansätze zum Verständnis des Verhältnisses zwischen Kultur und Zivilisation erscheinen als die plausibelsten. Es gibt in der Tat viele Gemeinsamkeiten zwischen diesen Phänomenen, sie sind untrennbar miteinander verbunden, verwoben und gehen ineinander über. Bereits die deutschen Romantiker wiesen darauf hin, dass Kultur die Zivilisation “durchwachsen“ kann, und die Zivilisation wiederum in Kultur übergeht. Daher haben wir im alltäglichen Leben ausreichend Grund, die beiden nicht zu sehr auseinanderzuhalten. Dies gilt auch für jene Wissenschaftler, die Zivilisation durch die Linse der Kultur oder umgekehrt betrachten. Einige von ihnen “lösen“ die Kultur in der Zivilisation auf, andere bevorzugen die Kultur und trennen sie von der Zivilisation.

Mit einem strikteren Ansatz jedoch können Kultur und Zivilisation als relativ eigenständige Phänomene betrachtet werden, da sich in jedem von ihnen spezifische, ihm zugehörige Elemente, Merkmale und Besonderheiten herausstellen lassen. Insbesondere Sprache und Wissen gehören zur Kultur, während Schrift und Wissenschaft zur Zivilisation zählen. Dies legt die Grundlage für die Existenz zweier separater Disziplinen — der Kulturwissenschaft und der Zivilisationswissenschaft — die jeweils ihr eigenes Studiengebiet haben. Dieser Ansatz ist mittlerweile in der modernen Literatur vorherrschend.

Obwohl viele Elemente von Kultur und Zivilisation bereits in der Ära der Wildheit und Barbarei entstanden sind, vollzog sich ihre Entwicklung als besondere Phänomene zu unterschiedlichen Zeiten. Die Kultur bildete sich früher heraus, sie ist älter als die Zivilisation, die die Ära der Barbarei ablöste. Zivilisation entstand infolge der neolithischen Revolution, die tiefgreifende Veränderungen in der Entwicklung der Menschheit mit sich brachte. Die wichtigste dieser Veränderungen war der Übergang von einer subsistenzwirtschaftlichen Lebensweise (Jagd und Sammeln) zu einer produktiven Technologie (Landwirtschaft und Viehzucht).

Die Evolution der Zivilisation lässt sich in zwei Hauptphasen unterteilen: 1) die agrarisch-traditionelle Phase, die für Sklavenhalter- und Feudalgesellschaften charakteristisch war, und 2) die industrielle Phase, die mit dem Kapitalismus in Verbindung steht. In der modernen Literatur wird auch die dritte Phase der Zivilisation aktiv untersucht — die postindustrielle Zivilisation. Diese entstand in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die wissenschaftlich-technische Revolution und hochentwickelte Technologien und führte zur Entstehung der postindustriellen Informationsgesellschaft.

Es gibt auch andere Klassifikationen. So kann Zivilisation je nach Betrachtungsebene global, das heißt weltumspannend, kontinental (zum Beispiel europäisch), national (französisch) oder regional (nordafrikanisch) sein. Einige Ostwissenschaftler vertreten die Auffassung, dass Zivilisation ursprünglich in zwei “Äste“ zerfiel — den Westen und den Osten, die jeweils ihren eigenen, unverwechselbaren Entwicklungspfad verfolgten. Der östliche Weg wird als natürlich und normal angesehen, während der westliche als Mutation und Abweichung betrachtet wird. Andere Wissenschaftler schlagen ebenfalls vor, alle Zivilisationen in zwei Typen zu unterteilen, geben ihnen jedoch eine andere Deutung: Eine Zivilisation — die technogene — wird als typisch für den Westen betrachtet, während die andere — die psychogene — den östlichen Ländern eigen ist, wobei die indische Zivilisation der Vergangenheit als Beispiel dient. Schließlich wird in manchen Ansätzen Zivilisation auf die materielle Kultur bezogen, während Kultur als das geistige Wesen betrachtet wird.

Trotz der Vielzahl an Ansichten über die Zivilisation gibt es eine Reihe von wesentlichen Merkmalen, in denen man weitgehend übereinstimmt. Zu den wichtigsten Kennzeichen der Zivilisation gehören die Bildung des Staates, das Entstehen der Schrift, die Trennung der Landwirtschaft vom Handwerk, die soziale Schichtung in Klassen und das Aufkommen von Städten. Während die ersten beiden Merkmale in der Regel als zwingend erforderlich angesehen werden, wird die Notwendigkeit der übrigen oft in Frage gestellt.

In der Zivilisation spielt die Technologie eine besondere Rolle, mit deren Hilfe die Gesellschaft ihre Beziehungen zur Natur gestaltet. Für die Zivilisation sind eine stabile Organisation, Trägheit, Ordnung, Disziplin und ähnliche Eigenschaften typisch. Sie strebt nach Universalität und Allgegenwart, was sich besonders im modernen Zeitalter zeigt, in dem vor unseren Augen auf der Grundlage neuester Informationstechnologien eine einheitliche universelle Zivilisation entsteht.

Im Gegensatz dazu liegt im Wesen der Kultur der primäre Wert auf nationaler Eigenständigkeit und Originalität, Unverwechselbarkeit und Einzigartigkeit, Wandelbarkeit und Neuheit, Unzufriedenheit mit sich selbst, kritische und kreative Impulse, Selbstwertschätzung sowie das Streben nach einem höheren Ideal.

Die relative Unabhängigkeit von Kultur und Zivilisation und zugleich ihre enge Wechselwirkung können zu einem Ungleichgewicht und Widersprüchen zwischen beiden führen. Ein Übergewicht der Zivilisation und eine Reduktion der Kultur darauf würde eine Stagnation der gesellschaftlichen Entwicklung bedeuten, eine Schwächung und das Erlöschen ihrer geistigen und moralischen Elemente. Genau eine solche Situation lässt sich in der modernen Gesellschaft beobachten, in der die Zivilisation immer stärker auf die Kultur drückt.