Ein Leitfaden zur Philosophie: Ein Blick auf Schlüsselkonzepte und Ideen - 2024
Kultur und Natur
Kultur und Zivilisation
Gesellschaft, Geschichte und Kultur
Kultur und Natur stehen in einem komplexen Verhältnis zueinander. Auf den ersten Blick könnte man meinen, sie seien gegensätzlich, da Kultur, per Definition, das Un-Natürliche, ein außerhalb der Natur stehendes Phänomen ist, das vom Menschen selbst erschaffen wurde. Natur hingegen ist aus sich selbst heraus entstanden, sie existiert unabhängig und selbstgenügsam. Sie existierte vor dem Menschen und der Kultur und könnte auch ohne sie bestehen. All dies spricht für die Gegensätzlichkeit von Kultur und Natur. Doch bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass sie eng miteinander verbunden sind, da Kultur aus der Natur hervorgeht, genauer gesagt aus der Wechselwirkung des Menschen mit der Natur. Alle kulturellen Produkte, einschließlich Kunstwerke, bestehen aus natürlichen Materialien. Die Natur ist die Mutter allen vom Menschen Geschaffenen.
Die Beziehungen zwischen Natur und Kultur hängen vor allem von der Kultur ab, von ihrem Wesen und ihren Merkmalen. Diese wiederum tragen das Erbe der herrschenden Religion. Daraus ergeben sich grundlegende Unterschiede zwischen der westlichen Kultur, die auf dem Christentum basiert, und der östlichen, die im Islam und anderen östlichen Religionen verwurzelt ist, insbesondere in ihrer Haltung zur Natur.
Nach der Theorie C. Jungs ist der Mensch des Ostens introvertiert, sein Bewusstsein richtet sich nach innen, er sucht Erlösung in sich selbst, im Vervollkommnen seiner Spiritualität. Der Muslim sieht die Natur nicht als etwas, das er aneignen, beherrschen oder gar zerstören kann. Vielmehr ist ihm die Demut, die Verehrung und die Vergöttlichung der Natur eigen. Besonders deutliche Beispiele für diese Haltung finden sich in den indischen Religionen, insbesondere im Jainismus, wo der für die indischen Religionen charakteristische Grundsatz der Ahimsa (Gewaltlosigkeit gegenüber allen Lebewesen) bis ins Extrem geführt wird. Anhänger des Jainismus dürfen keine Landwirtschaft betreiben, da das Pflügen des Bodens Lebewesen — Würmer und Insekten — töten könnte. Sie müssen ihren Mund mit einem weißen Tuch bedecken, um kein Insekt versehentlich zu verschlucken. Jains dürfen nur tagsüber gehen, wobei sie den Weg vor sich mit einem speziellen Besen fegen, um nicht versehentlich auf ein lebendes Wesen zu treten.
Der westliche Christ zeigt eine viel pragmatischere Haltung zur Natur. Nach C. Jung ist der westliche Mensch extrovertiert, sein Verstand richtet sich nach außen. Er sucht Erlösung nicht in sich selbst, sondern in der Beherrschung der Natur und der ihn umgebenden Welt. Er hat sich schon lange als Umgestalter und Bezwinger der Natur gesehen. Daher das bekannte Zitat des turgenjewschen Helden Bazarov: “Die Natur ist kein Tempel, sondern eine Werkstatt, und der Mensch darin ein Arbeiter.“
Dieser Ansatz ist weitgehend durch die christliche Auffassung des Arbeitslebens bestimmt, das als Hauptaufgabe des Menschen, als eine der höchsten Werte und Tugenden gilt. Doch auch in der westlichen Kultur haben sich die Vorstellungen von der Natur im Laufe der Zeiten verändert.
Ein Ausgangspunkt in dieser Frage kann die antike Kultur sein. Dabei ist hervorzuheben, dass die Natur in der antiken Kultur allgemein hochgeschätzt wurde. Dennoch gehen gerade aus der fernen Antike zwei Tendenzen in der europäischen Kultur hervor, die im Hinblick auf die Natur sehr unterschiedliche Auffassungen vertreten. Eine dieser Tendenzen könnte man als die griechische bezeichnen, die andere als die römische. Besonders deutlich manifestieren sich diese Tendenzen im Bereich der Landwirtschaft.
Die Griechen betrachteten die Arbeit des Landwirts als etwas Heroisches, das Mut, Tapferkeit und sogar Raserei erfordert. Man könnte sagen, dass sie in gewissem Sinne der Natur und den Göttern die Stirn boten. Die alten Griechen pflügten das Land nicht einfach, sondern strebten danach, die Früchte zu erlangen, die von den Göttern in seinem Innern verborgen worden waren. Die Römer jedoch sahen dies anders. Für sie war die Arbeit des Landwirts eine friedliche, ruhige und natürliche Tätigkeit, die zudem besonders geachtet wurde. Diese Haltung erstreckte sich auch auf die Kunst, die ihrer Meinung nach ebenso natürlich entstehen sollte wie Bäume, Pflanzen und alle lebenden Wesen wachsen. Die Römer strebten nach Harmonie, nach einem Einklang von Kultur und Natur, in der Hoffnung, von der Natur dafür reichlich belohnt zu werden.
Im Laufe der Zeit gingen diese beiden Tendenzen parallel nebeneinander her, oft miteinander verwoben, oder aber eine setzte sich über die andere. Im Mittelalter herrschte der religiös-asketische Blick auf die Natur vor, in dessen Licht sie nicht besonders hoch geschätzt wurde, sondern als Quelle der Versuchung und Unreinheit galt. Die Natur wurde als trennende Barriere zwischen Gott und dem Menschen angesehen, und im Menschen selbst nahm sie die Form des physischen Körpers an, der von der Kirche als Fessel, als Kerker für die Seele betrachtet wurde, die das göttliche Prinzip im Menschen verkörperte.
In der Epoche der Renaissance wurde die antike, vorwiegend römische, Tradition in den Blickweisen auf die Natur wiederbelebt. In den Werken des italienischen Dichters Francesco Petrarca erscheint die Natur als liebende Mutter, als Erzieherin und Gebärerin, als natürliche Norm und heiliger Gesetzgeber für den Menschen, in dem alles von der Natur kommt — nicht nur der Körper, sondern auch der Geist. Die Natur beginnt, Gott selbst zu bedrängen, als ob sie ihn in sich aufnimmt, und tritt nicht als Barriere, sondern als Vermittlerin zwischen Gott und dem Menschen auf. Die Kunst der Renaissance strebt danach, dem antiken Prinzip des Mimesis (Nachahmung) zu folgen, indem sie den Künstler als großen Nachahmer der Natur beschreibt und die Nähe der Sprache der Kunst zur Sprache der Natur proklamiert.
Im modernen Zeitalter, beginnend mit der Mitte des 17. Jahrhunderts, wird in der europäischen Kultur die antike griechische Tendenz zu einer vorherrschenden Haltung gegenüber der Natur. Die westliche Gesellschaft stellt mit klarer Entschiedenheit das Ziel, die Natur zu erobern und sich untertan zu machen. Wesentliche Veränderungen vollziehen sich auch in der Kunst. Zwar nicht alle, aber viele Künstler beginnen, die Kunst über die Natur zu stellen. Goethe glaubt, dass “der frei im Geiste stehende Künstler über der Natur steht und sie nach seinen Zielen deuten kann“. Der englische Schriftsteller Oscar Wilde erklärt noch bestimmter: “Die Kunst beginnt dort, wo die Natur endet.“ Diese Tendenz erreicht ihren Höhepunkt in der Mitte des 20. Jahrhunderts, als die sich entfaltende ökologische Krise nicht nur die Existenz der Natur, sondern auch die des Menschen selbst zu bedrohen beginnt.
Das Problem der Beziehung zwischen Kultur und Natur kann auch auf den Menschen selbst angewendet werden. Hier tritt es als das Problem des Verhältnisses zwischen dem Angeborenen, d. h. dem Biologischen, das genetisch vererbt wird, und dem Erworbenen, d. h. dem Soziokulturellen, das durch Erziehung entsteht, auf.
Historisch wurde dieses Problem ebenfalls unterschiedlich interpretiert, doch im Allgemeinen wurde dem Erworbenen, dem soziokulturellen Faktor, Vorrang eingeräumt. Im 20. Jahrhundert änderte sich die Situation in dieser Frage jedoch grundlegend, und der biologische Erbfolgefaktor trat in den Vordergrund. Dies war weitgehend eine Folge der Entstehung der Soziobiologie in den USA Mitte der 1970er Jahre, in der das Leben menschlicher Gesellschaften mit dem Leben bestimmter Insekten (Bienen, Ameisen) verglichen wird und die genetische Vererbung im Menschen als entscheidend und maßgeblich betrachtet wird. Einige Vertreter dieser Wissenschaft glauben, dass das Leben des Menschen zu 80 % durch genetische Information vorbestimmt ist und nur zu 20 % durch den soziokulturellen Faktor. Dieser Ansatz ist keineswegs unstrittig, doch er ist für unsere Zeit besonders aufschlussreich.
Die moderne ökologische Krise erfordert eine radikale Überprüfung unserer Sicht auf die Natur. Wir müssen uns von den früheren Einstellungen zur hemmungslosen Ausbeutung und dem rückhaltlosen Umgestalten, zur Herrschaft über die Natur, die die gefährlichen und zerstörerischen Widersprüche zwischen Natur und Kultur hervorgerufen haben, verabschieden. Zwischen beiden muss eine völlig andere Beziehung hergestellt werden. Konkrete Beispiele für die Beziehung zwischen Kultur und Natur können sowohl aus der östlichen Kultur — der alten indischen und chinesischen, die sich durch eine beispiellose Poetik und Ästhetisierung der Natur auszeichnet — als auch aus der westlichen, insbesondere der Kultur der Renaissance, entnommen werden. Kultur und Zivilisation sollten danach streben, die Natur nicht zu unterwerfen, sondern zu beseelen. Heute, wie nie zuvor, erklingen die Worte des russischen Dichters Fjodor Iwanowitsch Tjutschew: “Nicht das, was ihr meint, ist die Natur. Kein Abbild, kein seelenloses Antlitz. In ihr ist eine Seele, in ihr ist Freiheit, in ihr ist Liebe, in ihr ist Sprache.“