Ein Leitfaden zur Philosophie: Ein Blick auf Schlüsselkonzepte und Ideen - 2024
Religion, Religionsphilosophie, Religionswissenschaft
Philosophie und Religion
Formen der wertebezogenen Erschließung des Seins
Wie bereits festgestellt, stellt die Philosophie ein komplex organisiertes System des Wissens dar, das den Anspruch erhebt, das gesamte vorhandene Wissen und die kumulierte menschliche Kultur zu verallgemeinern und zu synthetisieren. Daher tritt sie in komplexe Wechselwirkungen mit allen anderen Formen geistiger Tätigkeiten des Menschen — Wissenschaft, Kunst, moralischem Bewusstsein, Ideologie und so weiter. Besonders komplex und facettenreich ist die Wechselbeziehung zwischen Philosophie und Religion, zwischen philosophischem und religiösem Bewusstsein. Doch bevor wir die Vielschichtigkeit und Komplexität der Beziehungen zwischen diesen geistigen Tätigkeiten des Menschen weiter ergründen, muss der Begriff der “Religion“ sowie der gesamte Kreis von Begriffen, die zur Klärung der Natur und des Ursprungs der Religion dienen, präzisiert werden.
Religion ist eine Weltanschauung und ein Welterleben des Menschen sowie ein Verhalten, das durch den Glauben an die Existenz Gottes bestimmt ist, durch das Gefühl der Verbindung und Abhängigkeit von ihm, die Ehrfurcht und Verehrung der Kraft, die Halt gibt und dem Menschen bestimmte Normen des Verhaltens gegenüber anderen Menschen und der gesamten Existenz vorschreibt.
Im Laufe der Geschichte gab und gibt es eine enorme Vielfalt an Religionen und religiösen Überzeugungen, die sich tiefgehend im Verständnis der Natur Gottes, seiner wesentlichen Eigenschaften, seiner Beziehungen zur Welt der Natur und des Menschen, der Normen des Verhältnisses der Menschen zu Gott sowie in der kultischen (rituell-praktischen) Praxis unterscheiden.
Normalerweise unterscheidet man zwei Haupttypen von Religionen. Erstens sind da die natürlichen Religionen, die ihre Götter in den verschiedenen Naturkräften finden; diese werden auch als ethnische oder ethnonationale Religionen bezeichnet, da sie eng mit bestimmten nationalen Charakterzügen, der geistigen Kultur des Volkes und den historisch geformten Bräuchen und Traditionen verbunden sind. Zweitens gibt es die Weltreligionen, die auf der Anerkennung einer höchsten geistigen Kraft beruhen, die sowohl den Menschen als auch die ganze Welt erschaffen hat. Diese universelle und allmächtige geistige Kraft wird Gott genannt. Zu den Weltreligionen zählen Christentum, Judentum, Islam und Buddhismus.
Wenn wir von Religion sprechen, beziehen wir uns im Folgenden hauptsächlich und vor allem auf das Christentum. An dieser Stelle sei auch darauf hingewiesen, dass im Christentum und in der west-europäischen Philosophie, die stark vom Christentum beeinflusst wurde, der erste Typ von Religion, nämlich die ethnischen Religionen, oft als Heidentum bezeichnet wird.
In der Struktur entwickelter Theorien unterscheidet man in der Regel folgende Hauptkomponenten der Religion: Erstens das alltägliche Bewusstsein der Gläubigen (die Gesamtheit ihrer Überzeugungen und Vorstellungen) und den theoretisch systematisierten Teil der Religion, der als Theologie bezeichnet wird. Zweitens die religiöse Tätigkeit als praktisches geistiges Erschließen der Welt, die kultische und nicht-kultische Handlungen umfasst. Drittens die Beziehungen, die durch religiöse Ideen und Normen vorgegeben sind, die ebenfalls kultische und nicht-kultische sein können. Viertens die religiösen Institutionen und ihre Organisationen, wobei die Kirche die wichtigste ist.
In ihrer Einheit und Wechselwirkung aller dieser strukturierenden Komponenten erfüllt die Religion eine weltanschaulich-integrative Funktion, indem sie Erklärungen für die Natur, die Gesellschaft und den Menschen liefert, das heißt für die Welt im Ganzen. Hier fällt sofort eine gewisse Ähnlichkeit der Religion mit der Philosophie auf. Gleichzeitig erfüllt die Religion jedoch viele andere Funktionen, die der Philosophie nicht zukommen. Eine dieser Funktionen ist die sogenannte rettende-kompensatorische Funktion, die dem Menschen Hoffnung auf Erlösung von den Lasten und Schwierigkeiten des weltlichen Alltagslebens gibt. Zu den wichtigen Funktionen der Religion gehört auch die kommunikations- und integrationsfördernde Funktion: Religion erleichtert die Kommunikation und Vereinigung von Menschen, die eine gemeinsame Weltanschauung teilen. Und schließlich die regulierende Funktion, die dem Menschen bestimmte Normen und Werte des Verhaltens, vor allem ethische, vorgibt.
Es wird oft angenommen, dass religiöser Glaube ein unverzichtbarer Bestandteil der Religion ist und in jeder Religion zwangsläufig vorhanden ist. In Wirklichkeit ist das jedoch keineswegs der Fall. In verschiedenen Religionen wird dem Begriff des Glaubens nicht nur ein unterschiedlicher Sinn zugeschrieben, sondern in vielen von ihnen wird dieser Begriff überhaupt nicht verwendet. Im Wesentlichen ist es nur das Christentum, das sich mit dem Wort “Glaube“ beschreibt.
Das Heidentum glaubt nicht an Götter, sondern strebt danach, ihre Welt zu verstehen, um die geistige Welt sich selbst und seinen Interessen zu unterwerfen, wobei es auf die magische Technik seiner Rituale und Zaubersprüche vertraut. Selbst in der späten Antike waren die religiösen Gefühle der Römer, wie A. F. Losev bemerkte, “sehr vorsichtig, misstrauisch. Der Römer glaubt nicht so sehr, er misstraut eher. Er hält Abstand von den Göttern. Die Stimmung und der Gemütszustand spielten eine untergeordnete Rolle. Man musste wissen, wann und welchem Gott man beten musste — und der Gott konnte nicht anders, als zu helfen — er war gesetzlich verpflichtet, zu helfen, wenn alle Regeln des Gebets beachtet wurden.“
Im Osten wurde der Glaube ebenfalls nicht mit der Essenz des religiösen Weges gleichgesetzt. Letzterer wird hier vielmehr als Gnosis (Wissen) verstanden. Das Wissen über die höheren Gesetze des Seins, das Wissen um die Wege des eigenen Heils — das ist es, was die religiösen Systeme des Ostens von Daoismus bis Gnostizismus ihren Anhängern anbieten.
Das Alte Testament stellt das Wesen des religiösen Lebens in enger Verbindung mit dem Gesetz. Das Gesetz und das Gebot sind Kategorien, die der Jude anruft, wenn er über seine religiöse Eigenart nachdenkt.
Der Islam hingegen ist in seiner Grundlage frei von den mystischen Höhen und Tiefen der ihn umgebenden Religionen. Er legt den Schwerpunkt auf Treue, auf Hingabe an den Propheten und seine Lehre.
Und nur der Christ oder der Mensch, der in einem kulturellen Umfeld des christlichen Einflusses aufgewachsen ist, wird sagen: “Nicht ich kann, nicht ich weiß, nicht ich vollziehe, nicht ich gehorche, sondern ich glaube, ich glaube.“ So baut der Christ seine Beziehung zum Sein und zu Gott auf.
Das Problem der Beziehung zwischen Religion und Philosophie, zwischen religiösem Glauben und Wissen gehört zu den ewigen traditionellen Fragen, die sich im gesamten Verlauf der Geschichte der Philosophie immer wieder gestellt haben. Doch trotz ihrer Ewigkeit und Tradition blieb dieses Problem keineswegs unverändert in seinem konkreten Inhalt und seiner Füllung, sondern gewann vielmehr immer neue Facetten und Aspekte, wurde jedes Mal anders aufgeworfen und gelöst als zuvor.
Man kann vier wesentliche historische Etappen der Aufstellung und Lösung dieses Problems unterscheiden. Die erste Etappe ist das antike Zeitalter, die zweite das Mittelalter, die dritte die Neuzeit, die den Zeitraum vom 17. Jahrhundert bis zum Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert umfasst, und schließlich die moderne Epoche. Während in der ersten Epoche das Zusammenwirken und das gegenseitige Durchdringen philosophischer und religiöser Ideen kennzeichnend war, zeichnete sich der zweite Zeitraum durch die allmähliche Vorherrschaft der Religion und der Theologie (Theologie) über Philosophie und Wissenschaft aus. Im Gegensatz dazu beginnt im dritten Zeitraum ein immer wachsender und sich vertiefender Konflikt, ein Widerstreit zwischen Religion und religiösem Glauben einerseits und Philosophie und Wissenschaft andererseits. In dieser Zeit unternahmen sowohl die Philosophie als auch die Wissenschaft enorme Anstrengungen, sich von der Religion zu isolieren und ihre völlige Unabhängigkeit und Autonomie zu demonstrieren. Daraus resultierten auch die für diese Epoche so charakteristischen direkten und oft offen feindlichen Angriffe gegen Religion und religiösen Glauben, die zur Marginalisierung der Religion im spirituellen Leben Europas führten und den Rationalismus begünstigten, in dessen Kontext der Religion eine Rolle als ein zusätzlicher, jedoch nicht besonders wesentlicher Bestandteil der erkenntnistheoretischen Kultur des Menschen zugedacht war.
Ganz anders gestaltet sich heute die Beziehung zwischen religiösem Glauben und Wissen in all seinen Formen. Die moderne Gesellschaft erlebt scharf und dramatisch das Ende der Aufklärungs- und Rationalismusära, die durch eine Verabsolutierung des Verstandes und des rationalen Prinzips im gesamten geistigen Leben gekennzeichnet war. Dies zeigt sich nicht nur im Krisenbewusstsein der Wissenschaft selbst im aktuellen Stadium ihrer Entwicklung, sondern auch im kontinuierlich anwachsenden und sich ausdehnenden Druck verschiedenster Art von neureligiösen, okkultistischen, astrologischen und theosophischen Lehren, sowohl traditionellen als auch neuen. Vor diesem Hintergrund wird zunehmend deutlich, dass die nihilistische oder zumindest skeptische Haltung gegenüber Wissen in all seinen Formen, und vor allem gegenüber wissenschaftlichem und philosophischem Wissen, die üblicherweise dem Christentum zugeschrieben wird, stark übertrieben ist. Im Vergleich der genannten Lehren mit dem Christentum könnte man eher das Gegenteil behaupten. Und zwar, dass das Christentum durch den offenen Widerstand gegen all diese anti-intellektualistischen Tendenzen und Bestrebungen eine der wichtigsten geistigen Stützen darstellt, die den Glauben an die enormen Möglichkeiten des Verstandes aufrechterhält.
Unter diesen Bedingungen wird zunehmend die Meinung geäußert, dass sowohl die Wissenschaft als auch die Religion wieder ein breites Feld für Verständigung und Zusammenarbeit eröffnen. Solche Urteile haben eine historische Grundlage. Man erinnere sich, dass es die christliche Religion war, die maßgeblich zur Entwicklung eines wissenschaftlichen Weltverständnisses als Mittel oder Instrument des Kampfes gegen Okkultismus beigetragen hat. Dieser Prozess begann bereits am Ende des Mittelalters, aber er nahm besonders im Zeitalter der Neuzeit an Fahrt auf, da es für das Christentum von großer Bedeutung war, den Triumph einer wissenschaftlich-mechanistischen Weltanschauung zu gewährleisten: Der Mechanismus vertrieb den Geist aus der Natur. Es ist keineswegs zufällig, dass das wissenschaftliche Weltbild genau in der christlichen Europäer entstanden ist und nicht in der arabischen Kultur, die in vieler Hinsicht sehr verfeinert und hochstehend war, und auch nicht in der chinesischen oder indischen Kultur.
Natürlich gab es zwischen Religion und Wissenschaft ernsthafte Konflikte. Aber heute bilden sich die Voraussetzungen für ihre neue Allianz, gerade weil all diese Stimmen, Visionen, Prophezeiungen und wundertätigen Erscheinungen gleichermaßen der christlich-theologischen Rationalität und der rationalen wissenschaftlichen Erkenntnis widersprechen.
Deshalb kann man sagen, dass der scharfe Konflikt zwischen Religion einerseits und Wissenschaft und Philosophie andererseits, der für die gesamte Aufklärungsära so charakteristisch war, an der Schwelle zum 20. Jahrhundert und mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts erheblich abgeschwächt wurde.
Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben sich sowohl die Stellung als auch die Rolle der Philosophie bei der Reflexion über die Natur der Religion und des religiösen Glaubens erheblich verändert. Die Schwächung der Positionen der Religion durch die Verstärkung der Rolle und Bedeutung der Philosophie, die in der Epoche der Aufklärung stattfand, hatte zur Folge, dass die Analyse der Natur, des Ursprungs und der Funktionen der Religion fast vollständig in den Rahmen der Philosophie selbst verlagert wurde, während die Theologie (Theologie), d. h. die Darstellung des Inhalts der Religion und des religiösen Glaubens in einer streng geordneten und systematisierten Form, als völlig unnötiger, unnütz gewordener “Anhang“ erschien. Darüber hinaus bildete sich innerhalb der Philosophie als eigenständiger Zweig eine spezielle Disziplin, die sich Philosophie der Religion nannte. Sie stellte sich die Aufgabe, mit rein philosophischen und nur philosophischen Mitteln das Wesen der Religion und des religiösen Glaubens zu erforschen und Kriterien und Anforderungen aufzustellen, denen diese unbedingt entsprechen müssen.
Die Bemühungen, mit philosophischen Mitteln eine umfassende und ganzheitliche Lehre über Gott zu schaffen, erwiesen sich jedoch letztlich als wenig produktiv und verringerten daher das Vertrauen in die Möglichkeiten der Philosophie der Religion als spezielle Wissensdisziplin. Zunehmend wird die Meinung geäußert, dass die Erkenntnismöglichkeiten, Formen, Methoden und Mittel, die von der Philosophie der Religion vorgeschlagen wurden, erschöpft sind. Gleichzeitig gibt es immer mehr Aufforderungen, den gesamten Erkenntnisgehalt, der in der zweitausendjährigen Geschichte der Entwicklung der theologischen (theologischen) Gedanken gesammelt wurde, zu reflektieren und das Arsenal an Methoden und Mitteln zur Analyse von Religion und religiösem Glauben zu übernehmen, die von der Theologie angeboten werden.
Es wächst die Überzeugung, dass die Diskussion über Religion und religiösen Glauben heute nicht mehr in den Bereich der Religionsphilosophie gehört, sondern in den Bereich der wissenschaftlichen Untersuchung des angesammelten Erfahrungswissens über das religiöse Leben der Menschheit verlegt werden sollte. Dies umfasst eine detaillierte und vertiefte Erforschung der Besonderheiten des tatsächlichen Lebens des Menschen in Einheit mit Gott oder im Angesicht Gottes, eine Untersuchung dieses Lebens in seiner ganzen Eigenart und Vielfalt, im Unterschied zum Leben des Menschen, der vom göttlichen Miteinander entfremdet ist. Ein solcher Ansatz wird im Rahmen eines Wissensgebiets durchgeführt, das sich am Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert herausgebildet hat und als wissenschaftliche oder vergleichende Religionswissenschaft bezeichnet wird.
Es sei sofort angemerkt, dass die wissenschaftliche oder vergleichende Religionswissenschaft keineswegs die Notwendigkeit der philosophischen Auseinandersetzung mit Religion in Frage stellt, da sie nicht gegen die Philosophie an sich gerichtet ist, sondern gegen die Religionsphilosophie als eine besondere, spezifische Disziplin der philosophischen Erkenntnis in jener Form, die sie im 18. und 19. Jahrhundert angenommen hatte, als sie versuchte, ein systematisches Lehrgebäude über Gott ausschließlich oder beinahe ausschließlich mit philosophischen Methoden und Mitteln zu schaffen.
Nach diesen Vorbemerkungen wollen wir nun zum eigentlichen Thema der Beziehung zwischen Philosophie und Religion übergehen. Die erste und zentrale Frage, die sich dabei stellt, ist die Suche nach einer Antwort auf die Frage: Wie gelangt der Mensch überhaupt zur Idee Gottes? Ist Gott eine objektive Realität oder lediglich eine subjektive Haltung und Erfahrung des Menschen? Was sind die Ursachen und Grundlagen für das Entstehen von Religion?