Ein Leitfaden zur Philosophie: Ein Blick auf Schlüsselkonzepte und Ideen - 2024
Religiöser Glaube und Rationalität
Philosophie und Religion
Formen der wertebezogenen Erschließung des Seins
Das zweite zentrale Problem, das sich bei der Klärung des Inhalts und der Bedeutung der Beziehung zwischen Philosophie und Religion stellt, ist das Problem des erkenntnistheoretischen Status des religiösen Glaubens und der religiösen Erfahrung, der Beziehungen des religiösen Glaubens zum Wissen in all seinen Formen, vor allem zum philosophischen und wissenschaftlichen Wissen. Schon bei einem oberflächlichen und flüchtigen Überblick über Religion und religiöse Anschauungen wird deutlich, dass der religiöse Glaube all das ausdrückt, was Gläubige über die göttliche Realität in ihrem Verhältnis zum Menschen und zur Welt wissen, darüber, wie ihr praktisches Leben und ihre Beziehungen zu anderen Menschen organisiert sein sollten. Dies begründet das umfassende und aufmerksame Interesse an den erkenntnistheoretischen Aspekten des religiösen Glaubens.
Zudem stellen die Aspekte, die man als Wissen innerhalb des gesamten religiösen Komplexes bezeichnen kann, den größten philosophischen Interesses dar. Die Schwierigkeit liegt zunächst darin, dass der Begriff “Wissen“ keineswegs einfach und einheitlich ist. Es gibt eine alltägliche Vorstellung von Wissen als all das, was Informationen über die uns umgebende Welt und den Menschen selbst vermittelt. Es ist offensichtlich, dass nicht jede Information Wissen im präzisen, strengen Sinne dieses Begriffs darstellt, wie er in der Wissenschaft und Philosophie verwendet wird. Sie kann nur dann Wissen darstellen, wenn sie ganz bestimmten Anforderungen genügt, vor allem in Bezug auf die Höhe und den Grad ihrer Begründung und Zuverlässigkeit. Informationen in Form von Vorstellungen, Meinungen, Urteilen usw. müssen zumindest prinzipiell überprüfbar sein und sich auf logische, theoretische Begründungen stützen. Daher stellt sich die Frage: Kann die Information, die im religiösen Glauben enthalten ist, als Wissen qualifiziert werden? Und wenn ja, warum und auf welcher Grundlage?
Besonders deutlich tritt der erkenntnistheoretische Aspekt im religiösen Glauben in jenen Interpretationen zutage, die ihn aus einer spezifischen Form der Erfahrung, nämlich der religiösen Erfahrung, ableiten. Seit dem späten 19. Jahrhundert gewinnt diese Deutung der Natur des religiösen Glaubens zunehmend an Bedeutung in der philosophischen, theologischen und wissenschaftlich-religionswissenschaftlichen Betrachtung des Glaubens. Besonders einflussreich und autoritativ ist sie in der literarischen Kunst, der religiös-philosophischen und theologischen Gedankenwelt, zu deren bedeutendsten Vertretern in Russland V. S. Solowjow, N. O. Losskij, S. L. Frank, I. A. Iljin, P. A. Florenskij gehören.
Religiöse Erfahrung bedeutet das unmittelbare Bewusstsein, das Erleben der gegenwärtigen Wirklichkeit Gottes sowie die Annahme, dass Gott als Objekt, als Gegenstand oder als solcher gesetzt wird. Religiöse Erfahrung ist ein bestimmter Bewusstseinszustand, der die gesamte intellektuelle und emotionale Sphäre umfasst und sich auf das Subjekt der Erfahrung und die höchste göttliche Realität bezieht. Menschen, die religiöse Erfahrung haben, betrachten das Göttliche als die Ursache dieser Erfahrung. Dieser Kontakt vollzieht sich in Form einer Vereinigung des Menschen mit dieser Realität, des Eintauchens in sie, des Erlebens ihrer Präsenz, des Aufstiegs zu ihr usw. Dabei werden diese und andere Erlebnisse als einzigartige existentielle Situationen wahrgenommen, als einzigartige Weisen der Beziehung zur Realität, die praktisch keine Entsprechung in den gewöhnlichen sinnlichen und intellektuellen Funktionen des Bewusstseins haben. Daher wird das Problem des erkenntnistheoretischen Status des religiösen Glaubens auf das Verständnis der Natur und des erkenntnistheoretischen Status, der erkenntnistheoretischen Werte und Möglichkeiten religiöser Erfahrung übertragen.
Die Hinwendung zur religiösen Erfahrung als Grundlage, auf der religiöser Glaube entsteht und funktioniert, entsprang dem Wunsch, für die Religiosität eine Basis zu finden, die relativ unabhängig von Appellen an göttliche Offenbarung, die Schriften der Kirchenväter und die religiöse Tradition ist. Man kann den kognitiven (erkenntnistheoretischen) Status der Heiligen Schrift, die Schriften der Kirchenväter, die Beschlüsse der Konzilien in Frage stellen, aber man kann nicht an der Tatsache des Vorhandenseins religiösen Lebens und religiöser Erfahrung zweifeln. Darüber hinaus muss man anerkennen, dass für Menschen mit solcher Erfahrung diese in einer ganz offensichtlichen Weise als wahr betrachtet wird, einfach weil die Erfahrung in jeder ihrer Formen diese Qualität von Wahrheit in sich trägt. Sie zeigt diese Wahrheit unmittelbar. Wenn ich etwa Schmerz empfinde oder Freude erlebe, reicht es zur Bestätigung dieser Empfindungen, dass ich diese Empfindungen und Erlebnisse selbst habe. In ähnlicher Weise ist der Inhalt religiöser Erfahrung für den Subjekt dieser Erfahrung völlig wahr.
Natürlich handelt es sich hierbei nur um eine Analogie und keineswegs um eine Begründung oder einen Beweis für die Angemessenheit oder Wahrheit der Vorstellungen, die durch religiöse Erfahrung hervorgebracht werden. Daher kann die Untersuchung des erkenntnistheoretischen Status und der Erkenntnismöglichkeiten religiöser Erfahrung nicht auf diesem anfänglichen Punkt begrenzt bleiben und bleibt es auch nicht. Ausgehend von diesem Punkt muss die Analyse des erkenntnistheoretischen Status und der Erkenntnismöglichkeiten religiöser Erfahrung weitergehen und diese Ausgangsannahme einer gründlichen und umfassenden Prüfung unterziehen, um die Grundlagen, auf denen sie beruht, zu verstehen und zu ermitteln. Es ist klar, dass dies nur durch die Untersuchung der Besonderheiten religiösen Wissens und durch den Vergleich mit anderen Typen und Formen menschlicher Erkenntnistätigkeit, vor allem mit philosophischem und wissenschaftlichem Wissen, realisiert werden kann.
In der Geschichte der philosophischen Gedankenwelt ist das Problem des erkenntnistheoretischen Status religiösen Glaubens und der Beziehungen zwischen religiösem Glauben und Wissen unter den unterschiedlichsten terminologischen Bezeichnungen aufgetreten — die Beziehung zwischen Glauben und Vernunft, Glauben und Wissen, Glauben und Philosophie, Glauben und Wissenschaft, Glauben und Mystik usw. Heute wird es jedoch am häufigsten als das Problem der Beziehung zwischen religiösem Glauben und Rationalität bezeichnet. Dabei wird unter Rationalität die Gesamtheit relativ stabiler Regeln, Normen und Standards menschlicher Tätigkeit im Bereich des Wissens verstanden, die von bestimmten Gemeinschaften, häufig Philosophen und Wissenschaftlern, geteilt und angewendet werden. Diese Gesamtheit von Normen, Regeln und Standards der Erkenntnistätigkeit unterscheidet Wissen von anderen Arten von Informationen — Meinungen, Vorstellungen, Bewertungen usw. Diese Gesamtheit wurde in den philosophischen Lehren und Konstruktionen des 17. und 18. Jahrhunderts am vollständigsten und detailliertesten entwickelt und als Rationalismus bezeichnet.
Dieser Typ des Rationalismus unterscheidet sich erheblich einerseits von den ihm historisch vorangegangenen rationalistischen Konzepten und Konstruktionen der antiken und mittelalterlichen Philosophie, andererseits von den sogenannten nichtklassischen Modellen des Rationalismus oder Neorationalismus, die im 20. Jahrhundert entstanden. Das Hauptmerkmal der klassischen Rationalismusmodelle im Unterschied zu den früheren Formen liegt darin, dass letztere hauptsächlich auf den Untersuchungsprinzipien beruhen, die für deduktive Wissenschaften charakteristisch sind, insbesondere für Mathematik und Logik, während der klassische Rationalismus auf dem sich im Neuen Zeitalter entwickelnden Komplex der Naturwissenschaften fußte. Im Gegensatz dazu unterscheidet sich die klassische Form des Rationalismus von ihrer modernen Ausprägung durch die Auffassung der Natur sowie des Ursprungs der Normen und Standards der erkenntnismäßigen, gedanklichen Tätigkeit. Während diese im klassischen Rationalismus als eine allgemeine, abstrakte, überkulturelle, nicht-historische Eigenschaft betrachtet werden, betont der Neorationalismus ihre sozial-historische, kulturelle Determiniertheit und damit ihre Relativität. Im Folgenden werden wir uns vor allem mit der klassisch verstandenen Rationalität befassen, insbesondere was die wissenschaftliche und philosophische Rationalität betrifft.
Die typischsten Merkmale der Erkenntnistheorie des klassischen Rationalismus sind durch die Besonderheiten der wissenschaftlichen Praxis jener Zeit bedingt, vor allem durch das sich entwickelnde experimentelle Naturverständnis. Die Reflexion über diese Besonderheiten stützt sich auf einige allgemeine philosophische Ideen über die Natur sowie den Menschen und das Wesen der Erkenntnis. Insbesondere ging man davon aus, dass am Grund der erkenntnismäßigen Beziehung eine gewisse Entsprechung und Homogenität zwischen der Natur und dem erkennenden Denken liege, ihre tiefe Verwandtschaft, die sowohl das Wissen selbst als auch die Verlässlichkeit seiner Ergebnisse möglich mache. Der Erkenntnissubjekt erschien nicht als lebendiger, konkreter Mensch mit all seinen Besonderheiten und Neigungen, sondern eher als ein gewisser absoluter Verstand. Die ihm zugeschriebenen Wahrnehmungs- und Denkmechanismen wurden als absolut, allgemein und universell interpretiert.
So vergleicht der Begründer des klassischen Rationalismus, René Descartes, Wissen mit den Strahlen des Lichts: So wie es der Sonne gleichgültig ist, was ihre Strahlen beleuchten, so ist es auch dem Verstand gleichgültig, welche Bereiche des Seins ihm zugänglich sind. Es handelt sich hier um eine rein mechanische Analogie, die zudem misslungen ist, da die Sonne nur die Oberfläche erleuchtet, ohne in dunkle Bereiche eindringen zu können. Obwohl Descartes von den Möglichkeiten des Verstandes überzeugt war, beantwortete er die Frage nicht: Kann alles im Universum in klaren und präzisen Begriffen ausgedrückt werden? Wenn der menschliche Verstand ein universelles Werkzeug zur Erkenntnis der äußeren Welt ist, ist er dann auch gut genug, um sich selbst und die Welt des Menschen zu begreifen? Gibt es im Weltall und im Menschen Bereiche, die dem Verstand verschlossen sind, "Dunkelheiten", oder ist alles klar und durchsichtig? Die spätere Erfahrung zeigte, dass durch klares und bestimmtes Denken nur gedankliche, abstrakte Gewissheit erreicht wird, nicht jedoch lebenspraktische Zuverlässigkeit.
In Descartes' Vergleich ist nichts neu, nichts spezifisch-rationalistisch: Wissen wurde schon lange mit dem Licht des natürlichen Verstandes verglichen. Die Neuheit der Problemstellung ergibt sich daraus, dass sie in den Kontext eines prinzipiell neuen Verständnisses der Beziehung zwischen Mensch und Natur und des daraus hervorgehenden neuen Verständnisses der Rolle des Wissens im menschlichen Leben eingebettet war. Es entstand ein mechanisches Weltbild, das die Welt als riesiges Konglomerat mechanisch aufeinanderwirkender Körper darstellte. Das Wesentliche, was dem Menschen als erkenntnismäßige Pflicht auferlegt wurde, war die Pflicht, kausale, ursächliche Beziehungen zwischen Dingen zu erfassen, sie zu fixieren und sich deren Nutzen zu verschaffen. Rationalität, insbesondere wissenschaftliche, verwandelte sich in eine Technologie zur Beherrschung der Natur, zur Unterwerfung ihrer Bedürfnisse und Anforderungen des Menschen. Diese transformierende, konstruktive und manipulierende Tätigkeit wurde zum Kriterium der Wahrheit erklärt: Wahrheit ist nicht das, was uns auf irgendeine Weise gegeben wird, sondern das, was wir erschaffen. Nur das, was ich mit meinen eigenen Händen geschaffen habe und dessen Konstruktionsprozess ich kontrollieren kann, kann die Qualitäten der Wahrheit und authentischen Verlässlichkeit besitzen. Mit den Worten des Faust von Goethe: “Was man wissen muss, das kann man mit den Händen greifen“, wobei Goethe diesem Geist der totalen Konstruktion wenig Sympathie entgegenbringt.
In der Erkenntnistheorie des klassischen Rationalismus erscheint die Realität als etwas Passives. Sie hat ihre Geheimnisse, aber keine Mysterien, und der Mensch muss raffinierte Werkzeuge finden, um diese geheimen Aspekte zu entschlüsseln. Ab Galileo ist der Forscher nicht mehr ein Schüler im Tempel der Natur, sondern Richter und Henker. Richter, weil er entscheidet, was ist und was nicht ist, was niemals sein kann. Mit anderen Worten, die Grenzen der Realität werden vom Menschen festgelegt. Die Realität ist identisch mit dem, was die positive Wissenschaft als solche ansieht, und sie ist nur das. Als Henker der Natur wird der Mensch (und zwar aus einer methodologischen, nicht ökologischen Perspektive) dadurch betrachtet, dass er, auf der Suche nach bestimmten Eigenschaften eines Objekts, nicht vor dessen Zerstörung haltmacht. Galileo verglich das Experiment mit dem spanischen Stiefel, in den der Mensch die Natur hineinquetscht, um die gewünschte Antwort zu erzwingen.
Im Bereich der religiösen Erkenntnis ist die manipulierende Aktivität des Subjekts durch die selbstoffenbarende Aktivität des Objekts eingeengt. Und je höher der ontologische Level des zu erkennenden Gegenstands, desto mehr ist der Wille des Forschers eingeschränkt, desto mehr hängt der Erfolg der Erkenntnis davon ab, ob der Gegenstand sich bereit erklärt, sich selbst zu offenbaren. Das Erkenntnispotential ist im physikalischen Bereich nahezu unbegrenzt. Aber schon die Erkenntnis des Lebendigen stößt auf bestimmte Einschränkungen. Und im Bereich des menschlichen Lebens ist längst nicht “alles erlaubt“. Hier können wir nur abwarten, bis sich der andere Mensch uns offenbart, was in jedem Fall nur als Antwort auf die Bestätigung unserer Friedfertigkeit möglich ist.
Bildlich gesprochen können wir sogar in der unbelebten Natur nicht mit Gewalt das Gefühl einer hohen Harmonie erzwingen: Diese Eigenschaften bietet uns die Natur selbst an, wenn wir bereit sind, dieses Geschenk anzunehmen. Umso mehr erweist sich der Akt der religiösen Erkenntnis, im Grunde, als ein Akt der Offenbarung, wobei Letzteres nicht im theologischen, sondern im philosophisch-erkenntnistheoretischen Sinne verstanden wird. “Offenbarung“, so erklärt S. L. Frank, “ist überall dort, wo irgendetwas Seiendes... sich selbst, mit eigener Aktivität, sozusagen von eigener Initiative aus, dem anderen offenbart durch die Beeinflussung des anderen… In unserer inneren Welt begegnen uns Inhalte oder Momente, die nicht als unsere eigenen Schöpfungen erkannt werden, sondern als etwas, das — manchmal stürmisch — in unser Inneres von außen, aus einer anderen Sphäre des Seins, eindringt“.
Mit der Offenbarung als einer Methode der Erkenntnis der geistigen Realität haben wir nicht nur dann zu tun, wenn wir über religiöse Erkenntnis nachdenken oder über die Kommunikation mit anderen Menschen sprechen, sondern auch beim Wahrnehmen von Kunstwerken. Ästhetische Wahrnehmung ist im Wesentlichen der religiösen Wahrnehmung ähnlich. Wie im Akt der religiösen Wahrnehmung ist auch die ästhetisch erlebte Wirklichkeit nicht passiv: In Momenten ästhetischer Erfahrung hören wir auf, uns einsam zu fühlen — wir treten mit etwas Vertrautem in Kontakt. Das Äußere hört auf, Teil einer kalten, gleichgültigen, objektiven Welt zu sein, und wir spüren seine Verwandtschaft mit unserem inneren Sein — wir erleben die Wirkung des Objekts auf uns. Nebenbei bemerkt, hat Winnie Puuh eine der treffendsten Definitionen des Begriffs “Offenbarung“ gegeben, zumindest im ästhetischen Sinne. Auf den Vorschlag von Piglet, ein Lied zu dichten, sagte Winnie Puuh für sich: “Aber das ist nicht so einfach, denn Poesie ist keine Sache, die man findet, sie ist eine Sache, die einen findet, und alles, was du tun kannst, ist, dorthin zu gehen, wo du gefunden werden kannst.“
Das Wesentlichste an der Spezifik des religiösen Wissens besteht darin, dass die religiöse Wirklichkeit als personalistische Realität erscheint. Es ist nicht etwas Unpersönliches und Gleichgültiges, nicht ein ontologisch überfülltes Sein, sondern eine lebendige Person, die sich dem Menschen im Erlebnis der Gottesgemeinschaft zuwendet.
Das bedeutet, dass die Methodik des religiösen Wissens nach Prinzipien des Dialogs aufgebaut werden muss. Wie in jedem echten Dialog mit einer Person müssen wir erstens die Autonomie des Objekts unseres Ansprechens anerkennen, seine unzerstörbare und unumkehrbare, nicht reduzierbare Andersartigkeit. Mit anderen Worten, wir müssen anerkennen, dass der Sinn des Seins des Anderen und der Sinn unseres Zusammentreffens mit ihm von unseren eigenen Projekten aus von vornherein nicht festgelegt werden können. Zweitens müssen wir bereit sein, vom Anderen während seiner Äußerungen etwas zu hören, das nicht in unsere allzu egozentrischen Pläne passt. Drittens müssen wir lernen, den Dialogteilnehmer als Person wahrzunehmen, das heißt als ein Wesen, das mit mindestens ebenso tiefem ontologischen Status ausgestattet ist wie wir selbst. So wie wir uns selbst nicht als bloße Sache unter anderen Dingen, als einen von vielen Fakten des Seins wahrnehmen, so müssen wir auch den Anderen im Ereignis des Dialogs unterscheiden von der Flut der “sachlichen Wahrnehmungen“ und ihn aus der numerischen Anonymität herausheben. Der Dialog kann nur mit der Antwort des Anderen beginnen, mit der Benennung des Gesprächspartners mit dem Namen, der nur ihm zukommt, was besonders in religiösem Leben von Bedeutung ist.
Und noch ein weiterer Schluss aus der personalistisch-dialogischen Natur des Aktes religiösen Wissens. Aufgrund der spezifischen Art der Beziehungen zwischen Gott und Mensch wird hier die klassische Trias des neuzeitlichen Rationalismus — “Objekt — Subjekt — Erkenntnisinstrument“ — nicht beachtet. In der klassischen wissenschaftlichen Parodie wendet der Subjekt des Wissens mit Hilfe von Erkenntnismitteln (zu denen nicht nur etwa Teilchenbeschleuniger gehören, sondern auch die Sprache der Beschreibung und sogar der Körper des Erkennenden) das Objekt von der Seite, die ihm interessiert, zu sich. Dabei verändert sich das Objekt in Bezug auf das Subjekt, der Subjekt selbst erfährt jedoch keine wesentlichen Veränderungen. Die Parodie des Rationalismus verlangt die Reduktion der Subjektivität im Wissen zugunsten einer Zunahme der Objektivität. Mensch und Menschlichkeit sind störende Hindernisse auf dem Weg zur reinen Objektivität, Hindernisse in der Arbeit des reinen Denkapparates. Alles Persönliche, Subjektive, Menschliche muss eliminiert werden, jedes Forschungsergebnis, wenn es objektiv ist, muss von jedem anderen professionellen Forscher reproduzierbar sein. Nationalität und Glauben, familiäre Beziehungen und persönliche Merkmale — all diese Eigenschaften des Menschen werden hier nicht berücksichtigt. Der Subjekt des Wissens muss durch einen beliebigen anderen Forscher desselben Kalibers ersetzt werden.
Im religiösen Bereich jedoch ist dies prinzipiell nicht der Fall. Das Objekt des Wissens hier ist Gott, aber in seiner Transzendenz kann er weder Gegenstand der Erfahrung, des Denkens noch des Experiments sein. Daher wird der Subjekt, Gott, dem Erkenntnisaufwand nur in dem Maße zugänglich, in dem er aus seiner Transzendenz in die menschliche Welt eintritt: “Das Reich Gottes ist in euch“ (Lk. 17, 21). In der Sprache der Erkenntnistheorie bedeutet dies, dass das Objekt des Wissens im Subjekt selbst verankert ist, und dementsprechend können auch die Mittel der Erkenntnis nicht extern gegenüber dem Menschen stehen. Es ist ein offensichtliches Zusammenwachsen des Wirkungsbereichs des Objekts, des Subjekts und der Erkenntnismittel. Letztlich ist der Mensch in seiner Ganzheit hier “ontologisches Werkzeug“, Mittel des ontologischen Wissens. Nur sich selbst kann der Subjekt als Mittel des Wissens gebrauchen, um sich selbst Platz für die Offenbarung des Anderen zu verschaffen. Nur durch die Veränderung seiner selbst erlangt der Mensch eine neue Erfahrung.
Folglich ist der Mensch in seiner Subjektivität im religiösen Wissen im Gegensatz zur klassischen Parodie prinzipiell nicht abtrennbar, nicht ausschließbar.
Im wissenschaftlichen Wissen einerseits und im spirituellen, vor allem im religiösen Wissen andererseits sind prinzipiell unterschiedliche Strukturen des menschlichen Wesens engagiert. In der Wissenschaft handelt der Mensch als reine Intellektualität, reiner Verstand. Gewissen, Glaube, Liebe, Anstand — all dies unterstützt die Arbeit des Verstandes des Wissenschaftlers, aber im geistlichen Leben ist der Verstand, wenn man so sagen kann, nur die Arbeitskraft im Dienst des Herzens, wobei unter Herz eine gewisse Ganzheit aller geistigen Kräfte und Fähigkeiten des Menschen zu verstehen ist, also der Begriff “Herz“ in einem allgemeinen-sammelnden, symbolischen Sinne verwendet wird, nicht im buchstäblichen, anatomischen Sinn.
Im geistlich-moralischen Bereich handelt der Mensch als Person, das heißt als die vereinigte Gesamtheit und innere Verknüpfung seines Seins. Die Person und ihre Handlungen sind einerseits nicht auf den äußeren Kontext der Welt reduzierbar, andererseits aber in ihr absolut unersetzlich. In meinem Handeln als Person kann mich niemand ersetzen, denn sonst wäre es nicht meine Handlung. Daher erklärt M. M. Bachtin: “Der Erkenntnisakt als mein Handeln ist... in die Einheit meiner Verantwortung eingeschlossen. Nicht aus der theoretischen Transkription, sondern aus dem Akt des Handelns geht sein sinnvolles Inhalt hervor“. Verantwortungsvoll “ein Thema zu verstehen bedeutet, mein Gebot ihm gegenüber zu verstehen... was nicht das Abstrakte von sich, sondern mein verantwortungsbewusstes Teilnehmen bedeutet“. Im Gegensatz zum wissenschaftlichen Wissen, wo ich lediglich der Abdruck der Realität sein muss, und dieser Abdruck muss dem gleichen Einfluss desselben Objekts auf jeden anderen Menschen entsprechen, geht die moralische Handlung aus “meinem Nicht-Alibi im Sein“ hervor.
In der Atmosphäre des praktischen Verstandes (der Moral) muss, wie der kategorische Imperativ Kants besagt, um meine Pflicht im Limit zu verstehen, ich davon ausgehen, dass die gesamte Geschichte des Universums und mein eigenes Leben erst ab dem Moment meiner Wahl beginnen: Hinter mir gibt es nichts, was mich durch den Fakt und die Gesetze des Determinismus zu einem ungehörigen Handeln zwingen würde. Weder das, was vor mir war, noch das, was mit mir zusammen existiert, kann mich zu einem ungehörigen Handeln provozieren — “Nicht-Alibi im Sein“. Als Subjekt der moralischen Wahl bin ich in der Welt mit nichts ersetzbar und nichts ist mir gleich. Genau deshalb definiert Bachtin den Glauben als “verantwortungsvoll bewusstes Bewegungsmuster des Bewusstseins“.
So ist der Glaube nicht dem Wissen entgegen gesetzt, weil er nicht argumentiert oder sich nicht seiner Sache sicher ist und damit eine Art mangelhaften Wissens darstellt, sondern weil er eine ganz andere Form des Verhältnisses zur Wahrheit darstellt. Es gibt einen Kreis von Fragen, auf die nur der Antwort des Glaubens gegeben werden kann. Zu diesen Fragen gehört die Natur der menschlichen Person selbst, die persönlich-personalistische Natur Gottes (sofern letzterer anerkannt wird). Diese Fragen entziehen sich jeglicher Technizität und Objektivierbarkeit, das heißt, jeder entmenschlichten Erfassung. Oder, wie der französische Philosoph G. Marcel sagt, nur der Glaube vermag “der erstickend traurigen Welt des Rationalismus“ zu entkommen.
Religiöser Glaube setzt eine persönliche Beziehung zum Gegenstand der Untersuchung voraus, das heißt, er ist erstens frei fließend und daher nicht durch Zwang provoziert, zweitens persönlich, das heißt, es ist meine und nicht jemand anderes Beziehung zur Wahrheit; drittens impliziert die Etablierung des Verhältnisses des Glaubens eine wesentliche Veränderung meines Selbst als Subjekt des Glaubens.
Aus diesem Grund lässt sich der Glaube wie folgt definieren: Glaube ist die persönliche Selbstbestimmung des Menschen in Bezug auf das Wissen, das er besitzt, wenn der Mensch erkennt, dass ein gewisses Wissen (spirituelles und moralisches) nicht einfach “zur Kenntnis genommen“ werden kann, sondern von ihm eine lebensverändernde Antwort verlangt. Der Glaube ist eben diese Antwort. Er ist der denkende Wille des Menschen, das Ziel des Lebens, das er sich bewusst setzt, zu erreichen. In den Fällen, in denen das Ziel des Lebens direkt und unmittelbar mit den letzten Gründen für alles Existierende verknüpft wird und diese als eine überweltliche, überpersönliche, göttliche Realität angesehen werden, handelt es sich um religiösen Glauben. Jede Religion versteht diese Realität auf ihre eigene Weise. Durch den Glauben überträgt der Mensch das Wissen, das ihm über Gott zuteil geworden ist, mit einem Akt des Willens von der Peripherie seines Bewusstseins, seines Lebens, in ihr Zentrum.
Der Glaube kennt seinen Gegenstand, denn geglaubt wird (im eigentlichen religiösen, nicht im alltäglichen Sinne) nicht an irgendetwas. In diesem Fall, wie A. F. Losew anmerkt, “entweder unterscheidet der Glaube seinen Gegenstand klar von jedem anderen Gegenstand — dann ist dieser Gegenstand strikt bestimmt und der Glaube selbst ist bestimmt; oder der Glaube unterscheidet seinen Gegenstand von keinem anderen, auch nicht von seinem Gegenteil — und dann hat er keinen klaren Gegenstand und er ist selbst kein Glaube, also ist er an sich kein Glaube. Aber was bedeutet es, den Gegenstand zu fixieren, der klar von jedem anderen unterscheidbar ist? Das bedeutet, dass dieser Gegenstand mit deutlichen Merkmalen ausgestattet ist, die ihn scharf von allem anderen unterscheiden. Aber die deutlichen und wesentlichen Merkmale eines Gegenstandes zu berücksichtigen, bedeutet nicht, diesen Gegenstand zu kennen? Natürlich ja. Wir kennen eine Sache genau dann, wenn wir ihre Merkmale kennen, anhand derer wir sie sofort von anderen Dingen unterscheiden und unter der bunten Vielfalt von allem anderen finden können. Also ist der Glaube in seiner Essenz wahres Wissen...“
Die Beziehungen zwischen dem erworbenen Wissen über den Gegenstand des Glaubens und dem Willensakt können verschieden sein. In einigen Fällen, und am häufigsten, hat der Wille zum Glauben es mit Wissen zu tun, das bereits in der Seele aufbewahrt wird (der Mensch hat grundsätzlich anerkannt, dass es etwas gibt, das Evangelium im Wesentlichen richtig ist, aber er hielt nicht für notwendig, dass die Richtigkeit des Evangeliums etwas mit ihm persönlich zu tun hat). In anderen Fällen jedoch regt der Wille zum Glauben, der im Menschen erwacht, ihn an, das Feld seines Erlebens grundsätzlich zu verändern und zwingt ihn, nicht mit dem “Gefühl des Fehlens Gottes“ zufrieden zu sein, sondern neue Bedeutungen und neue Erfahrungen zu suchen. Der Wille zum Glauben ist an sich nichts anderes als der Wille zur Aufmerksamkeit, das heißt, zur Ausrichtung seines geistigen Blicks auf den Gegenstand religiösen Erlebens. Der Wille zum Glauben wirkt im Menschen nur dann, wenn es nicht um die Aktivierung einer seiner Fähigkeiten geht, sondern um die Gesamtheit aller geistigen und seelischen Kräfte und Fähigkeiten, die ihm innewohnen. Deshalb hat der Glaube auch seine eigenen Kriterien der Selbstbestätigung.
Religiöse Erkenntnistheorie ist in ihrem Wesen dynamisch: Der Mensch, der sich willentlich verändert und das Feld seines Erlebens verändert, findet den Gegenstand seines Glaubens. Doch der, “der im Inaktivismus auf Eingebungen wartet, wird sie bis zum Ende seiner Tage warten“ (Goethe). Durch ihre Bewegung und Streben findet der Glaube schließlich den von ihm geführten Gegenstand. Das bedeutet nicht, dass der gesamte Prozess religiöser Suche nur eine Projektion menschlicher Wünsche ist, wie es die Anhänger psychologischer und psychoanalytischer Konzepte der Natur des religiösen Glaubens (W. James, S. Freud) annehmen. Wenn wir Gott treffen und wir ihn so vorfinden, wie wir es erwartet haben, dann bedeutet das eine Täuschung, und wir haben uns einen Götzen erschaffen nach unserem Bild und unserem Wunsch. Im Gegenteil, die Begegnung mit dem lebendigen Gott ruft in der Seele Angst hervor: “Der Anfang der Weisheit ist die Furcht vor dem Herrn“ (Psalm 110, 10). “Nicht viele haben über die unumgängliche Wahrheit dieser Worte nachgedacht…“, schrieb P. A. Florenskij, “um Wissen zu erlangen, muss man den Gegenstand des Wissens berühren; das Zeichen dafür, dass diese Berührung erreicht wurde, ist das Erschüttern der Seele, die Angst. Ja, diese Angst wird durch die Berührung des Neuen, völlig Neuen erregt — gegen unser tägliches Leben. In die Reihe der Eindrücke der Welt mischt sich das Nicht-Weltliche, das mit nichts Vergleichbare, das mit nichts Ähnliche. Und wenn es uns verbrennt — in unser lebendiges ‚Ich’: aus der Zeit erblickten wir die Ewigkeit... “Esi“ — kein leichtes Wort: es wird sich nur im Erschüttern zeigen.“ Daher ist Staunen das Zeichen dafür, dass das Ziel der geistigen Erkenntnis erreicht und die Gewissheit erlangt wurde, dass das Offenbarte nicht aus eigener Macht stammt.
Erschütterung, Staunen, Ratlosigkeit sind notwendige Voraussetzungen für den Beginn des geistigen Aufstiegs. Deshalb kann man, scheint es, dem äußerlich schockierenden Urteil des Antichristen F. Nietzsche durchaus zustimmen: “Man muss ein Chaos in der Seele haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.“ Das Chaos in der Seele kann (hier ist alles dynamisch und alles hängt vom Bewegungsvektor ab: von oben nach unten oder umgekehrt) ein Zeichen für das eingetretene Erneuerung sein. Es gibt Zustände im Menschen, in denen “man ein Chaos in der Seele haben muss“. Danach beginnt die schaffende Arbeit: “Die Wahrheit wird wie ein Brunnen ausgebuddelt. Der Blick, wenn er zerstreut und verstreut ist, verliert die Fähigkeit, Gott zu sehen“ (A. de Saint-Exupéry). Manchmal wird der Brunnen gegraben, um aus seiner Tiefe, versteckt vor dem aufdringlich Sichtbaren, die Möglichkeit zu bekommen, das Unsichtbare zu betrachten (zum Beispiel die Sterne am Tag).
Im Allgemeinen jedoch ist die Unsichtbarkeit Gottes ein Postulat nicht der Religion, sondern der Anthropologie, ein Postulat nicht über Gott, sondern über den Menschen. Der Mensch ist so beschaffen, dass er Gott nicht sieht, aber das Gefühl Gottes ist ihm eigen: “O, prophetische Seele mein, o, Herz, voll Sorge, o, wie du an der Schwelle einer Art von doppeltem Dasein schlägst“ (A. A. Fet). Gottesvisionen hat der Mensch jedoch nicht.
Es gibt objektive Gründe für diese Tatsache. Jede Ganzheit, wie Kant am Beispiel der Ganzheit des Universums gezeigt hat, ist transzendent und metaphysisch, da wir im Erfahrungshorizont und den empirischen Wissenschaften keine universelle und einheitliche Ganzheit antreffen. Der göttliche Absolute ist das Ganze der Welt, das Einzige. Das Ganze ist, wenn auch nicht immer primärer als die Teile, zumindest ontologisch gehaltvoller als sie. Aber dadurch entsteht die Situation, in der der erkennbende Mensch im Weltgeschehen auf Fakten trifft, die unterschiedliche Spannungen des Seins zeigen, und dies stellt ihn vor eine Wahl: Entweder das Ganze sehen und die Teile nicht wahrnehmen oder die Teile sehen, aber das Ganze nicht erkennen. Oder Gott ist als solcher sichtbar, doch die Welt bleibt unsichtbar; oder die Welt ist sichtbar, doch Gott bleibt unsichtbar. Die Situation des Menschen in dieser Wahl ist eindeutig: Niemand hat Gott je gesehen. Dabei ist es wichtig zu bedenken, dass gemäß der christlichen Lehre im vollständigen Akt der Gotteserkenntnis dem Menschen nur die Manifestation des Göttlichen zuteilwird, jedoch nicht dessen Wesen oder Substanz. Dies gilt auch in allgemeinerer Hinsicht, da “die Substanz niemals vollständig dem Menschen erscheinen kann, ohne Rest. Denn wenn das Sein sich völlig in seine Handlung überführt, hört es auf, sich selbst zu bleiben.“
Der Mensch, der sich der unterschiedlichen Ebenen des Seins bewusst wird, muss sich selbst bestimmen, welche Welt er als seine betrachten will, mit all den sich daraus ergebenden Konsequenzen. Eigentlich ist es genau dies, was in den oben angeführten Überlegungen von M. M. Bachtin über das “Nicht-Alibi-Sein“ des Menschen, über die Ontologie und Epistemologie des religiösen Glaubens zum Ausdruck kommt. Dabei wollte er sagen, dass die Lehre Platons, die die Unerschütterlichkeit des wahrhaft Seienden und die Unsicherheit des Schein-Seienden gegenüberstellt, keineswegs lediglich die Feststellung ontologischer Differenzen beabsichtigt, sondern eine Orientierung des Menschen im Hinblick auf diese Ebenen. Vom Menschen wird eine aktive Wahl, ein Handeln erwartet — er muss vor der Mimikry fliehen und sich der Wahrheit zuwenden.
Aus der Tatsache, dass Gott dem Menschen unsichtbar ist, folgt jedoch nicht, dass der Mensch keinen Weg hätte, die reale Präsenz Gottes in der menschlichen Welt wahrzunehmen. Wie der Kleine Prinz von A. de Saint-Exupéry sagte: “Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.“ Deshalb ist die Versuchung so drängend: “Erkenne nur das Offensichtliche“ (so fasst A. A. Fet die Versuchung Christi in der Wüste zusammen). Dem kann der Mensch nur seinen eigenen Erfahrungswert entgegenstellen. Nach M. K. Mamardashvili hat Gott dem Menschen als seinem Ebenbild das Geschenk der Gotteserkenntnis anvertraut, und deshalb kann der Mensch in der Auseinandersetzung mit der Versuchung des Sichtbaren auf das ihm immanente Geschenk des Transzendierens zurückgreifen, das die Fähigkeit und das Streben ist, an einem Sein jenseits seines eigenen Selbst teilzunehmen. Der Mensch empfindet eine Sehnsucht nach dem, was außerhalb des weltlichen Kontexts liegt.
Daraus wird deutlich: Die Beziehungen zwischen menschlichem Verstand und Glauben sind nicht immer wolkenlos. Dennoch können die “Argumente des Herzens“ mit den “Argumenten des Verstandes“ vereinbart werden, wenn letzterer bereit ist, seine eigene innere Natur als ebenso bedeutende Quelle der Erfahrung zu betrachten wie die äußere Welt.
An dieser Stelle muss die bekannte Formel, die Tertullian zugeschrieben wird, präzisiert werden, die als die Essenz der christlichen Haltung zum Verstand gilt: “Ich glaube, weil es absurd ist.“ Dieser pseudo-tertullianischer Ausspruch trägt eine ganz bestimmte und zutreffende geistliche Bedeutung. Die Neuheit des Gott-Menschen war mit den Mitteln des antiken Denkens unvereinbar und nicht ausdrückbar. Dieser Konflikt konnte auf zwei Weisen gelöst werden: entweder durch Verzicht auf die neue Erfahrung des Wissens über den Menschen und Gott zugunsten des Komforts der alten Philosophien (philosophischen Standards) oder durch die Annahme der neuen Erfahrung in ihrer vollen inneren Antinomie und äußeren Absurdität. Der zweite Weg, den das frühe Christentum wählte, bedeutete die Aufopferung des eigenen Ansehens in den Augen der weltlichen Denker.
Dieser Prozess begann, die neue Erfahrung zu reflektieren und ihre Rationalisierbarkeit zu entfalten. Der Prozess ist noch nicht abgeschlossen und weit entfernt von seiner möglichen Vollständigkeit. Aus der Perspektive der Psychologie des geistlichen Lebens ist diese Haltung mit einem militärischen Übergang vergleichbar: Zuerst muss man sich mit Willenskraft einen Platz am anderen Ufer erkämpfen, bevor man dort die “schwere Technik“ der Argumente und Syllogismen anziehen kann. Dies ist keine Ablehnung des Verstandes, sondern ein Aufruf an ihn: Werde fähig, den neuen Erfahrungshorizont zu begreifen. Und Tertullian selbst hört nicht auf, den Verstand zu preisen: “Wenn in diesen Menschen Gott wäre, dann wäre auch der Verstand.“ — Ein Gott, der “alles vernünftig bedacht hat und will, dass die Menschen immer vernünftig handeln, mit Verständnis.“ So benötigt der Mensch laut Tertullian in allen Dingen den Verstand, die Überlegungen. Allgemeiner gesagt, liegt die Lösung der Schwierigkeiten in der Behauptung der Einheit von Verstand, Erkenntnis und Glauben. Daher kann wahre Glauben keinesfalls als blinder Glaube bezeichnet werden. Aber trotz allem bleibt der “sehende Glaube“ dennoch Glaube, da er weiterhin ein persönliches Verhältnis des Menschen verlangt und nicht in eine objektive, subsumierende Betrachtung übergeht.
Es gibt also Wissen, das dem Glauben vorausgeht, und Wissen, das aus dem Glauben hervorgeht. Natürlich ist auch letzteres unvollständiges Wissen, apophatisch, das heißt, es wird überwiegend in negativen statt in bejahenden Urteilen ausgedrückt. Doch die prinzipielle Unzugänglichkeit des Göttlichen sollte nicht als Grund dafür dienen, dass jegliche spirituelle und erkenntnistheoretische Tätigkeit untersagt wird.
Im Bereich des religiösen Glaubens müssen Epistemologie und Philosophie dem Theologischen Platz machen. Ohne auf das theologische Verständnis des Glaubens einzugehen, wollen wir einige wichtige Folgerungen aus dieser Perspektive herausstellen.
Zunächst bringen wir die Definition des Glaubens aus dem Neuen Testament: “Der Glaube aber ist die Verwirklichung dessen, was man hofft, und das Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht“ (Hebr. 11,1). So lautet die russische Übersetzung. Im slavischen Übersetzung wird das “Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht“ mit den Worten “Beweis unsichtbarer Dinge“ wiedergegeben. Was erwarten die Christen? Eine klare Antwort darauf enthält das Glaubensbekenntnis: “Ich erwarte die Auferstehung der Toten und das Leben der kommenden Welt“, das heißt, das ewige Leben, das Leben in Gott mit Christus. Dieses Leben der kommenden Welt wird durch den Glauben verwirklicht. “Verwirklichung“ — ein ontologisch gewichtiges Wort, das sich nicht auf Psychologie bezieht, sondern auf das Sein. Es geht nicht einfach um Hoffnung, sondern um die Erfüllung, die Verwirklichung dieser Hoffnung. Im lateinischen Übersetzung wird für diesen Synonymbegriff das Wort “substantia“ verwendet, daher könnte man diese Definition des Apostels Paulus auch in philosophischer Sprache als Substantialität des Erwarteten übersetzen.
Nun zum Ausdruck “Offenbarung unsichtbarer Dinge“, der in der slawischen Übersetzung von Pawlows Definition verwendet wird. Werfen wir einen genaueren Blick auf den Begriff “Offenbarung unsichtbarer Dinge“. “Offenbarung“ bedeutet das Verleihen eines Gesichts, das Hervortreten des Gesichts des Unsichtbaren und Erwarteten. In seiner vollen Bedeutung spricht dieser Apostelvers von der Gotteserkenntnis, vom Eintreten in das verborgene Geheimnis der Trinität. Aber darüber hinaus eröffnet der Glaube auch noch etwas anderes. Zunächst könnte man in philosophischer Sprache sagen, dass der Glaube als “Offenbarung unsichtbarer Dinge“ die Entdeckung der eidētischen noumenalen Struktur der Welt ist. In dieser Hinsicht ähnelt der Glaube der Wissenschaft: sowohl Religion als auch Wissenschaft streben danach, über die Welt der sichtbaren Phänomene hinaus zu blicken, um transzendente, ideale Bedeutungen — Eidos oder Gesetze — zu erlangen.
Dem Menschen wird die Notwendigkeit des Wissens zugeschrieben, da das Gute und das Böse in unserer Welt nicht in absoluter Form erschienen sind und die räumlich-zeitliche Diskretheit des Seins hinter sich die metaphysische Essenz der Welt verbirgt. Nicht zufällig, wie moderne Forschungen zeigen, entspricht das Entstehen des wissenschaftlichen Weltbildes keineswegs der schulüblichen Vorstellung von einer allmählichen Abschwächung der religiösen Weltwahrnehmung und der Festigung kausaler, rationaler Vorstellungen vom Universum. Im Gegenteil, der Lutherismus, der Calvinismus und zahlreiche protestantische Sekten haben das religiös-asketische Weltgefühl bis zum Äußersten getrieben. Die Hinwendung zur tiefgehenden Erforschung der Natur war ein Mittel der Reinigung der Seele, ein Kampf gegen niederträchtige Gedanken und Wünsche. Das Paradoxon der wissenschaftlichen Revolution bestand darin, dass diejenigen, die am meisten zu ihr beitrugen, nämlich die wissenschaftlichen Neuerer von Kopernikus bis Newton, in ihren religiösen und philosophischen Ansichten am konservativsten waren, was verständlich ist. Nach dem großen Physiker des 20. Jahrhunderts, W. Heisenberg, “führte die neue Naturwissenschaft... weg von der unmittelbaren Erfahrung. Mathematische Gesetze traten als sichtbarer Ausdruck des göttlichen Willens hervor... Mit dem Abfall von der Religion hatte das neue Denken daher offenbar nichts zu tun“. So meint der Schöpfer der Quantenmechanik und bestätigt, dass auch heute “das innigste Wesen der Dinge... nicht der materiellen Natur... mit Ideen zu tun hat, eher als mit deren materieller Reflexion“ [1].
Die verborgene Harmonie der Welt, die die Wissenschaft zu erkennen versucht, eröffnet sich schließlich in etwas, das den Wegen der religiösen Erkenntnis ähnlich ist, in etwas, auf das sich das Vertrauen des Menschen in die prinzipielle Erkennbarkeit der Welt stützen kann. Heisenberg erkennt offen an, dass die Grundlage unseres Vertrauens darin, dass die mathematischen Strukturen, die wir als Naturgesetze ansehen, ontologisch sind, nur theologisch sein kann. Religion ist seiner Ansicht nach nicht nur das Fundament der Ethik. Sie ist vor allem die Grundlage für das Vertrauen in die Welt, den Glauben an die Sinnhaftigkeit unseres Daseins in ihr. Erinnern wir uns, dass bereits Descartes in ähnlicher Weise zeigte, dass nur durch den Rückgriff auf die Menschlichkeit des Schöpfers die Fesseln des Solipsismus gesprengt und Vertrauen sowohl in die Welt als auch in menschliche Gefühle und Vernunft wiedergefunden werden kann.
Natürlich beseitigt diese Ähnlichkeit nicht die Unterschiede zwischen Religion und Wissenschaft, zwischen Religion und Philosophie. Vor allem, weil die Wahrheit in der Religion das “Wer“ ist, nicht das “Was“. Wie es im Evangelium nach Johannes heißt: “Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Joh. 14, 6). Im Allgemeinen lässt sich das, was der Philosoph oder der Wissenschaftler als “letzte Ursache“ finden kann, nicht eindeutig Gott nennen. Man könnte es als Vernunft, Weisheit, Logos oder einfach als einen bestimmten Plan bezeichnen. Aber dennoch bleibt es ein bestimmtes endgültiges Verständnis des Universums, ein grundlegendes Konzept und Fundament des Kosmos. In dieser Hinsicht kann es nicht als identisch mit dem transzendenten und persönlichen Absoluten verstanden werden. Diese Intuition wird nur teilweise durch das christliche personalistische Verständnis des Logos als Person ersetzt.
Selbst wenn der Wissenschaftler dieser letzten Realität zustimmt, sie als Gott zu bezeichnen, und selbst wenn er die biblische Glaubensauffassung selbst bekennt, bleibt die Grenze zwischen Religion und Wissenschaft bestehen, da der Wissenschaftler trotz seiner intensiven religiösen Praxis in seiner wissenschaftlichen Tätigkeit stets das Vorhandensein dieser idealen Ur-Einheit im Hinterkopf haben wird. Er kann es nicht zum speziellen Thema seiner Untersuchung machen. Die Religion jedoch stellt den Menschen direkt vor Gott und nicht nur vor die Ur-Einheit und versucht nicht so sehr, seine metaphysischen Eigenschaften zu verstehen, sondern vielmehr den Willen Gottes über diesen Menschen, über mich. Deshalb ist am Ende das Unsichtbare, das im Glauben offenbart wird, grundlegend anders als der philosophische Idealismus. Für den Glauben ist vor allem die Unterscheidung des Willens Gottes für uns von Bedeutung, d. h. das Erkennen von Gut und Böse. Die ewigen Gebote des Guten müssen jeden Tag durch die Anstrengung jeder neuen Tat erkannt werden.
Hier kann es keinen Automatismus geben. Der Glaube, der das Zentrum des persönlichen Lebens im Dienst an Gott behauptet, lehrt, in der Hektik moralische Orientierung zu unterscheiden. So zeigt der Glaube, dass es in der Welt keine neutralen Dinge gibt, keine gleichgültigen, bedeutungslosen Beziehungen zum Menschen. Durch ihn vollzieht sich eine phänomenologische Revolution: In der äußeren Welt hat scheinbar nichts Neues stattgefunden, keine neuen Ereignisse, aber alles hat sich in meiner Wahrnehmung der Welt verschoben, alles hat Bedeutung erlangt. Der Glaube als ein willensmäßiges Bemühen, die Wahrheit zu erkennen, führt zu einer Schau der Wahrheit in ihrem gnadenvollen Selbstenthüllen. Aber diese Schau kann in unserem irdischen Leben nicht immer gleichermaßen offensichtlich und intensiv fortdauern. Daher wird vom Gläubigen nicht nur das Kunststück verlangt, den Gipfel zu erklimmen, sondern auch den Weg von diesem Gipfel zum nächsten zu bahnen, durch das Tal, das sie unweigerlich voneinander trennt: Die Tätigkeit geht immer der Schau voraus. Daher sollte der Mensch seinen Glauben aufbauen und ihn nicht einfach wie Unkraut wachsen lassen.
In diesem Zusammenhang folgt daraus, dass, wenn Wissen nicht rational, nicht technologisch erlangt wird, dies nicht bedeutet, dass es später nicht rationalisiert werden kann. Die Geschichte der Theologie ist genau die Geschichte der Verschiebung der Grenzen der Rationalisierbarkeit des Inhalts des Glaubens im Bereich dessen, was ursprünglich in der Offenbarung der Erfahrung gegeben war.
So sind die Spuren der Rationalisierung des Glaubens im Alten Testament praktisch minimal. Man kann das gesamte Alte Testament lesen und keine bewussten und expliziten Anwendungen des logischen Werkzeugs, insbesondere Definitionen, finden. Das Thema wird durch die Verwendung verschiedener Metaphern und die Gleichsetzung mit Gleichnissen klargestellt. Diese Tradition wurde auch im Neuen Testament fortgeführt. Eine Ausnahme kann vielleicht nur für den Brief des Paulus an die Hebräer gemacht werden, der, wie viele Kenner der antiken Kultur und der Geschichte des Christentums bemerkten, sich durch seine klare Bindung an die griechischen Kanones und Normen der Textstruktur von allen anderen neutestamentlichen Schriften unterscheidet.
Das Gegenteil beobachten wir in den Schriften der meisten frühen Kirchenväter und in der mittelalterlichen theologisch-philosophischen Gedankenwelt. Ihnen kann nicht vorgeworfen werden, dass sie der Rationalität ihrer Zeit zu wenig Beachtung geschenkt haben, sondern eher das Gegenteil — sie folgten diesen Normen übermäßig pedantisch und akribisch. In dieser historischen Epoche begegnen wir einer festen Allianz, einer Einheit zwischen dem Glauben und der ersten historischen Form des europäischen Rationalismus. Fast auf jeder Seite der Schriften von Johannes von Damaskus und Thomas von Aquin begegnen wir strengen formalen Definitionen, und das Denken wird als logisch strenges und konsequentes Vorgehen von einer Definition zur nächsten aufgebaut. Fast allen theologischen Schriften dieser Zeit ist ein starkes Bestreben eigen, den Glauben möglichst weit zu rationalisieren, ihn in strenge logische Formen zu fassen, oft zum Nachteil des tatsächlichen lebendigen Inhalts des Glaubens.
Jedoch, seit der Neuzeit, wie bereits festgestellt wurde, divergieren die historischen Schicksale von religiösem Glauben und Rationalität, zumindest der sogenannten klassischen Rationalität. Ihre Gegensätzlichkeit zueinander war nicht zuletzt durch die Ansprüche des neuen Rationalismus auf Absolutheit, Macht und Universalität bedingt. Im vergangenen 20. Jahrhundert begann sich die Situation jedoch wieder zu wandeln. Es ist gerade das zunehmende Zweifeln an den grenzenlosen Möglichkeiten der Rationalität, an ihrer Allmacht und Allgegenwart, das heute Hoffnungen auf eine neue Harmonie zwischen Glaube und Rationalität nährt.
Dies bleibt vorerst eine entfernte und sehr abstrakte Möglichkeit. Doch selbst wenn sie in einem bestimmten historischen Zeitraum mit realem Inhalt gefüllt wird, wird sie nicht die prinzipiellen Unterschiede zwischen Religion und Wissenschaft aufheben. Der Glaube bleibt, wie er war, grundsätzlich nicht vollständig rationalisierbar. Dies hängt mit der Essenz des Glaubens selbst zusammen. Rationalität, wie auch immer wir sie verstehen, war und bleibt eine formale Eigenschaft des Inhalts menschlichen Wissens und Verhaltens, während der Glaube das Ergebnis, die Kristallisation lebendigen religiösen Erlebens ist. Jeder religiöse Dogma, das heißt die fundamentale Aussage eines bestimmten Glaubens, mag in einer flexibleren und differenzierteren Form der Rationalität ausgedrückt werden, doch sollte es nicht als eine präzise, erschöpfende, adäquate Darstellung des Wesens Gottes betrachtet werden. Im Gegenteil, dieses Wesen bleibt für das konzeptionell-begriffliche Denken bis zum Ende unergründlich.
Die Wahrheit über Gott hat symbolischen Charakter, das heißt, sie ist Wissen, das das uns offenbarte Wesen des Göttlichen in einer Form ausdrückt, die es uns zugleich nahe und verständlich, aber auch in gewissem Maße geheimnisvoll und unergründlich lässt. Aus diesem Grund setzt das Christentum wenig auf die Suche nach und Anwendung von Beweisen für das Dasein Gottes, obwohl in der mittelalterlichen Theologie und religiös-philosophischen Gedankenwelt des Mittelalters der Suche nach solchen Beweisen großes Gewicht beigemessen wurde.
Das Wesentliche beim Verständnis der erkenntnistheoretischen Natur religiöser Dogmen und der religiösen Wahrheit im Allgemeinen liegt darin, die Besonderheiten religiösen Wissens als eine völlig eigenständige Art des Wissens nicht aus den Augen zu verlieren. Erinnern wir uns daran, dass religiöses Wissen nicht das Ergebnis rein theoretisch unparteiischer Betrachtung äußerer Objekte ist, die in einer substanzlosen-objektiven Form ausgedrückt wird. Im Gegenteil, es ist Wissen-Erleben, Wissen-Gemeinschaft; es ist das Wissen des Unzweifelhaften, doch diese Unzweifelhaftigkeit wird nicht rational, sondern existenziell erfasst, das heißt durch die Erfahrung des Lebens mit der erlangten Wahrheit. Deshalb erschöpfen sich sowohl das Ergebnis religiösen Wissens als auch das religiöse Dogma nicht in rein theoretischen Urteilen über die objektive Natur jener Realität, mit der wir im religiösen Erleben konfrontiert sind. Denn die Realität, die wir im religiösen Erleben erkennen und intellektuell auszudrücken versuchen, um sie in einem Dogma festzuhalten, ist streng genommen eine Realität vollkommen anderen Charakters. Der wahre Sinn des Dogmas ist nicht theoretisch, sondern praktisch. Dogmen dienen gewissermaßen als Wegweiser, die es dem gläubigen Menschen ermöglichen, seinen Lebensweg richtig zu gestalten, die richtigen Lebenswerte und Orientierung zu wählen.
Aus diesem Grund kommt den religiösen Dogmen eine positive Bedeutung zu, ebenso wie die Rolle der Rationalisierung im Prozess der Bildung und Entwicklung religiösen Wissens und religiösen Glaubens. Dogmen, die im Prozess der Rationalisierung spirituellen Erlebens formuliert werden, verallgemeinern, präzisieren, erhellen und systematisieren die ganze Vielfalt und den Reichtum dieser Erfahrung. In ihrer Gesamtheit enthalten die grundlegenden Aussagen der Theologie, obwohl sie in sich eine potenzielle Gefahr der zwangsweisen rationalen Normierung des Glaubens bergen, dennoch bei richtiger Auslegung ihrer Natur eine Hilfe für das begriffliche Verständnis des Wesens des Glaubens, für die Festigung und Erhaltung seiner Einheit, und sie ermöglichen es, falsche Auslegungen und Interpretationen abzuschneiden.
Letzteres ist, angesichts der besonderen Komplexität, Feinheit und Delikatesse des Objekts, mit dem sich religiöses Wissen beschäftigt, besonders wichtig. Gerade der Reichtum des konkreten religiösen Erlebens zieht unaufhaltsam die Notwendigkeit nach sich, dieses möglichst vollständig und präzise in fundamentalen Grundsätzen auszudrücken (zumal die Paradoxie des christlichen Glaubens im Vergleich zu den Einstellungen des alltäglichen Lebenserlebens die Gefahr einer vereinfachten, falschen Auffassung des Inhalts des Glaubens in sich trägt und damit einen scharfen Bedarf an präziser und klarer Fixierung der Nuancen der evangelischen Verkündigung erzeugt). Und hier reichen die Möglichkeiten jenes metaphorischen Denkens, von dem wir gesprochen haben, nicht aus. Es muss durch Mittel der intellektuell-rationalen Fixierung des erlebten Inhalts ergänzt werden. Daher darf man weder die Rolle noch die Bedeutung der Rationalisierungsprozesse, auch im Entstehen und in der Entwicklung theologischen Denkens, herabsetzen oder übertreiben. Dies gilt umso mehr, wenn es um den Platz und die Rolle der Rationalität in der Struktur menschlicher Lebensführung geht, die insgesamt aus der Perspektive christlichen Denkens bewertet wird.
Somit reduzieren sich die Beziehungen zwischen religiösem Glauben und Wissen, religiösem Glauben und Rationalität nicht auf Gegensätze und gegenseitige Ausschließlichkeit. Religiöser Glaube ist eine der Varianten der Rationalität, wenn man diese im wörtlichen und strengen Sinne des Begriffs versteht, wie er aus der klassischen Konzept der Rationalität hervorgeht, bleibt jedoch eine besondere Art des Wissens, die sich von allen anderen Arten und Formen des Wissens unterscheidet: philosophischem, wissenschaftlichem, technischem, sozial-wissenschaftlichem und so weiter. Doch das Anerkennen eines besonderen erkenntnistheoretischen Status des religiösen Glaubens bedeutet keineswegs das Anerkennen eines Bankrotts, einer Unzulänglichkeit des positiven, rationalen Wissens in der Erkenntnis- und Lebenspraxis. Rationalität bleibt ein wesentliches und notwendiges Element sowohl des Seins als auch des Wissens und der praktischen Lebensführung. Daher ist eine auf sie gestützte weltanschauliche Haltung, die auf ein nüchternes rationales Weltverständnis orientiert ist, durchaus gerechtfertigt und angemessen auch aus der Perspektive eines Menschen, der im Rahmen christlichen Denkens reflektiert. Unbegründet — und sogar falsch — erscheint nicht diese Haltung an sich, sondern ihr Anspruch, absolut und erschöpfend zu sein, und somit die Möglichkeit des Wissens, das auf anderen Prinzipien und Grundlagen basiert, auszuschließen. Daher muss die Rationalität, als wichtigstes Prinzip der Erkenntnis der äußeren, natürlichen Welt, durch die Erfahrung der Erkenntnis einer anderen Art von Realität — der geistigen Realität, vor allem des menschlichen Seins, Bewusstseins und Verhaltens — ergänzt und bereichert werden. Und dann wird mit voller Klarheit deutlich, dass die Beziehungen zwischen religiösem Glauben und Rationalität, religiösem Glauben und Wissen einander nicht ausschließen, sondern sich wechselseitig ergänzen und bereichern.