Philosophie der Renaissance - Entwicklung der westlichen Philosophie im 15. bis 18. Jahrhundert - Geschichte der westlichen Philosophie

Ein Leitfaden zur Philosophie: Ein Blick auf Schlüsselkonzepte und Ideen - 2024

Philosophie der Renaissance

Entwicklung der westlichen Philosophie im 15. bis 18. Jahrhundert

Geschichte der westlichen Philosophie

Ab dem 14. bis 15. Jahrhundert vollziehen sich in den Ländern Westeuropas zahlreiche Veränderungen, die den Beginn einer neuen Ära markieren, die als Renaissance in die Geschichte einging. Diese Veränderungen standen vor allem im Zusammenhang mit dem Prozess der Säkularisierung — der Befreiung von Religion und kirchlichen Institutionen — der in allen Bereichen des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens stattfand. Die Unabhängigkeit gegenüber der Kirche wurde nicht nur von der wirtschaftlichen und politischen Sphäre, sondern auch von Wissenschaft, Kunst und Philosophie erlangt. Allerdings vollzog sich dieser Prozess zunächst sehr langsam und verlief in den verschiedenen Ländern Europas unterschiedlich.

Die neue Epoche erkannte sich selbst als Wiedergeburt der antiken Kultur, der antiken Lebensweise sowie der Denk- und Gefühlsweise, von der auch der Name “Renaissance“ — Wiedergeburt — stammt. In Wirklichkeit jedoch unterscheiden sich der Mensch der Renaissance, die Kultur und die Philosophie wesentlich von der antiken. Obwohl sich die Renaissance vom mittelalterlichen Christentum abgrenzte, entstand sie als Ergebnis der Entwicklung der mittelalterlichen Kultur und trägt daher Merkmale, die der Antike nicht eigen waren.

Es wäre falsch zu glauben, dass das Mittelalter die Antike völlig ablehnte oder ihr keinerlei Bedeutung beimaß. Schon zuvor wurde erwähnt, welchen großen Einfluss der Platonismus zunächst und später der Aristotelismus auf die mittelalterliche Philosophie ausübte. Im Mittelalter lasen die Menschen in Westeuropa Vergil, zitierten Cicero, Plinius den Älteren und schätzten Seneca. Doch bestand ein starkes Unterscheidungsmerkmal im Umgang mit der Antike im Mittelalter im Vergleich zur Renaissance: Das Mittelalter betrachtete die Antike als Autorität, die Renaissance als Ideal. Eine Autorität wird ernst genommen, ihr folgt man ohne Distanz, während man ein Ideal ästhetisch bewundert, jedoch stets mit einem Gefühl der Distanz zwischen diesem und der Realität.

Ein wesentliches Merkmal der Weltanschauung der Renaissance ist ihre Ausrichtung auf die Kunst: Wenn das Mittelalter als religiöse Epoche bezeichnet werden kann, so war die Renaissance vor allem eine künstlerisch-ästhetische Epoche. War in der Antike das naturkosmische Leben im Zentrum der Aufmerksamkeit, in der mittelalterlichen Zeit Gott und das damit verbundene Erlösungsverständnis, so stand in der Renaissance der Mensch im Mittelpunkt. Daher kann das philosophische Denken dieser Epoche als anthropozentrisch charakterisiert werden.

Humanismus und das Problem der Individualität

Im mittelalterlichen Gesellschaftsverband waren die korporativen und standesmäßigen Verbindungen zwischen den Menschen sehr stark, weshalb auch herausragende Persönlichkeiten in der Regel als Vertreter der von ihnen geleiteten Körperschaften oder Institutionen auftraten — ähnlich den Führern des Feudalstaates oder der Kirche. In der Renaissance jedoch erlangte das Individuum eine viel größere Unabhängigkeit, es trat immer häufiger nicht für ein bestimmtes Bündnis, sondern für sich selbst ein. Daraus erwuchsen ein neues Selbstbewusstsein des Menschen und eine neue gesellschaftliche Position: Stolz und Selbstbehauptung, das Bewusstsein eigener Stärke und Talente wurden zu charakteristischen Merkmalen des Renaissance-Menschen. Im Gegensatz zum mittelalterlichen Menschen, der sich ganz der Tradition verpflichtet fühlte — selbst dann, wenn er als Künstler, Wissenschaftler oder Philosoph einen wesentlichen Beitrag dazu leistete —, neigte das Individuum der Renaissance dazu, alle seine Verdienste sich selbst zuzuschreiben.

Die Epoche der Renaissance brachte der Welt eine Reihe herausragender Individualitäten, die sich durch ein lebendiges Temperament, umfassende Bildung und eine bemerkenswerte Willenskraft, Zielstrebigkeit sowie gewaltige Energie von anderen abhoben.

Vielseitigkeit — dies war das Ideal des Renaissance-Menschen. Die Theorie der Architektur, Malerei und Bildhauerei, Mathematik, Mechanik, Kartographie, Philosophie, Ethik, Ästhetik, Pädagogik — all dies gehörte zum Arbeitsbereich des florentinischen Künstlers und Humanisten Leon Battista Alberti (1404—1472). Im Gegensatz zum mittelalterlichen Meister, der zu seiner Zunft gehörte und sein Können in einem bestimmten Bereich erlangte, sah der Renaissance-Meister, befreit von der Zunftbindung und gezwungen, seine Ehre und Interessen selbst zu verteidigen, seine höchste Leistung in der Breite seines Wissens und Könnens.

Hierbei muss jedoch ein weiterer Aspekt berücksichtigt werden. Es ist allgemein bekannt, wie viele praktische Fähigkeiten und Fertigkeiten jeder Bauer — sowohl im Mittelalter als auch zu anderen Zeiten — besitzen musste, um sein Gut ordnungsgemäß zu bewirtschaften, wobei seine Kenntnisse nicht nur auf Landwirtschaft, sondern auch auf viele andere Bereiche angewendet wurden: Er baute sein Haus, kümmerte sich um die Technik, züchtete Vieh, pflügte, nähte, webte und so weiter. Doch all diese Fertigkeiten wurden beim Bauern nicht zum Selbstzweck, wie bei einem Handwerker, und machten daher nicht den Gegenstand einer speziellen Reflexion oder gar Demonstration aus. Der Wunsch, ein herausragender Meister — sei es als Künstler, Dichter oder Wissenschaftler — zu werden, wurde durch das allgemeine Klima begünstigt, das talentierte Menschen fast religiös verehrte: Sie wurden nun ebenso verehrt wie in der Antike die Helden oder im Mittelalter die Heiligen.

Diese Atmosphäre war besonders typisch für die sogenannten Humanistenkreise, die zunächst in Italien — in Florenz, Neapel und Rom — entstanden. Ihre Besonderheit lag in ihrer oppositionellen Haltung gegenüber sowohl der Kirche als auch den Universitäten, den traditionellen Zentren mittelalterlicher Gelehrsamkeit.

Der Mensch als Schöpfer seiner selbst

Schauen wir uns nun an, wie das reneissancezeitliche Verständnis des Menschen sich vom antiken und mittelalterlichen unterscheidet. Wir wenden uns dazu den Überlegungen eines der italienischen Humanisten, Giovanni Pico della Mirandola (1463—1494), in seiner berühmten “Rede über die Würde des Menschen“ zu. Nachdem Gott den Menschen erschaffen und “ihn ins Zentrum der Welt gestellt hatte“, richtete er sich mit den Worten an ihn: “Wir geben dir, Adam, weder einen festen Platz noch ein eigenes Bild noch eine besondere Aufgabe, damit du selbst deinen Platz, dein Bild und deine Aufgabe nach deinem eigenen Wunsch und Willen bestimmst. Das Bild der anderen Geschöpfe ist durch die uns gesetzten Gesetze festgelegt. Du aber, der du keinerlei Begrenzung unterworfen bist, wirst dein Bild nach eigenem Willen bestimmen, dem ich dich anheimgebe.“

Dies ist ein ganz anderes Bild des Menschen als das der Antike. In der Antike war der Mensch ein natürliches Wesen, insofern seine Grenzen von der Natur vorgegeben waren, und es hing nur von ihm ab, ob er der Natur folgte oder von ihr abwich. Daher hatte die griechische Ethik einen intellektualistischen und rationalistischen Charakter. Wissen, so meinte Sokrates, ist notwendig für moralisches Handeln; der Mensch muss wissen, was das Gute ist, und wenn er dies erkennt, wird er dem Guten folgen. Bildlich gesprochen, erkennt der antike Mensch die Natur als seine Herrin an und sich selbst nicht als Herr der Natur.

Bei Pico hören wir die Nachklänge der Lehre vom Menschen, dem Gott den freien Willen gab und der selbst über sein Schicksal entscheiden muss, seinen Platz in der Welt bestimmen muss. Der Mensch ist hier nicht nur ein natürliches Wesen, er ist der Schöpfer seiner selbst und unterscheidet sich dadurch von den übrigen natürlichen Wesen. Er ist Herr über die gesamte Natur. Dieses biblische Motiv wird nun wesentlich umgeformt: Im Laufe der Renaissance schwindet der mittelalterliche Glaube an die Sündhaftigkeit des Menschen und die Verderbtheit der menschlichen Natur, und infolgedessen bedarf der Mensch nicht mehr der göttlichen Gnade für sein Heil. Während der Mensch sich zunehmend als Schöpfer seines eigenen Lebens und Schicksals begreift, wird er auch zu einem unbeschränkten Herrn der Natur.

Der Apothéose der Kunst und der Kult des Schöpfers als Künstler

Solche Macht und solche Herrschaft über alles Existierende, auch über sich selbst, spürte der Mensch weder in der Antike noch im Mittelalter. Nun bedarf er nicht mehr der Gnade Gottes, ohne die er, so meinte man im Mittelalter, mit den Mängeln seiner “beschädigten“ Natur nicht zurechtkäme. Er selbst ist der Schöpfer, und deshalb wird die Figur des schöpferischen Künstlers geradezu zum Symbol der Renaissance.

Jede Tätigkeit — sei es die eines Malers, Bildhauers, Architekten oder Ingenieurs, eines Seefahrers oder Dichters — wird nun anders wahrgenommen als in der Antike und im Mittelalter. Bei den alten Griechen wurde die Kontemplation höher als die Tätigkeit gestellt (ausgenommen die politische Tätigkeit). Das ist verständlich: Die Kontemplation (auf Griechisch “Theorie“) führt den Menschen zu dem Ewigen, das heißt zur wahren Essenz der Natur, während Tätigkeit ihn in die vergängliche, weltliche Welt der “Meinung“ verstrickt. Im Mittelalter änderte sich die Haltung zur Tätigkeit ein wenig. Das Christentum betrachtete Arbeit als eine Art Sühne für Sünden (“Im Schweiß deines Angesichts sollst du dein Brot essen“) und betrachtete auch körperliche Arbeit nicht mehr als eine Sklavenbeschäftigung. Doch die höchste Form der Tätigkeit wurde als jene anerkannt, die zur Erlösung der Seele führt — und sie war in vielerlei Hinsicht der Kontemplation ähnlich: Gebet, Gottesdienst, das Lesen heiliger Schriften. Erst in der Renaissance bekommt die kreative Tätigkeit einen gewissen sakralen (heiligen) Charakter. Durch sie befriedigt der Mensch nicht nur seine rein irdischen Bedürfnisse, sondern er erschafft eine neue Welt, er schafft Schönheit, er erschafft das Höchste, was in der Welt existiert — sich selbst.

Es ist kein Zufall, dass in der Renaissance zum ersten Mal die Grenze verschwimmt, die zuvor zwischen Wissenschaft (als Erkenntnis des Seins), praktisch-technischer Tätigkeit, die als “Kunst“ bezeichnet wurde, und künstlerischer Fantasie existierte. Der Ingenieur und der Künstler sind nun nicht mehr nur “Künstler“, “Techniker“, wie sie es in der Antike und im Mittelalter waren, sondern Schöpfer. Der Künstler ahmt nicht nur die Schöpfungen Gottes nach, sondern strebt danach, das göttliche Schöpfungsgeschehen selbst zu verstehen. In den Schöpfungen Gottes, das heißt in den natürlichen Dingen, versucht er das Gesetz ihrer Formgebung zu erkennen. In der Wissenschaft finden wir diesen Ansatz bei Johannes Kepler, Galileo Galilei und Bonaventura Cavalieri.

Es ist klar, dass dieses Verständnis des Menschen weit entfernt ist von dem der Antike, obwohl sich die Humanisten selbst als Wiederbelebende der Antike verstehen. Die Trennlinie zwischen der Renaissance und der Antike wurde vom Christentum gezogen, das den Menschen aus der kosmischen Sphäre herausriss und ihn mit dem transzendenten Schöpfer der Welt verband. Die persönliche, auf Freiheit basierende Union mit dem Schöpfer trat an die Stelle der früheren — heidnischen — Verwurzelung des Menschen im Kosmos. Die menschliche Persönlichkeit (“der innere Mensch“) gewann einen bisher unbekannten Wert. Doch dieser ganze Wert der Persönlichkeit im Mittelalter beruhte auf der Union des Menschen mit Gott, war also nicht autonom: Der Mensch hatte ohne Gott keinen Wert.

In der Renaissance strebt der Mensch danach, sich von seiner transzendenten Wurzel zu befreien, indem er seinen Halt nicht mehr so sehr im Kosmos sucht, aus dem er in gewisser Weise hervorgegangen zu sein scheint, sondern in sich selbst, in seiner vertieften Seele und in seinem Körper — der ihm nun in neuem Licht erscheint, und durch den er die Welt und das Körperliche insgesamt anders sieht. So paradox es auch klingen mag, aber gerade die mittelalterliche Lehre von der Auferstehung des Menschen im Fleische führte zu der “Rehabilitation“ des Menschen in all seiner materiellen Körperlichkeit, die so typisch für die Renaissance ist.

Mit dem Anthropozentrismus ist der charakteristische Kult der Schönheit in der Renaissance verbunden, und es ist kein Zufall, dass gerade die Malerei, die vor allem das schöne menschliche Gesicht und den menschlichen Körper darstellt, zu dieser Zeit die führende Kunstform wird. Bei den großen Künstlern — Botticelli, Leonardo da Vinci, Raphael — findet die Weltsicht der Renaissance ihren höchsten Ausdruck.

Anthropozentrismus und das Problem der Person

In der Epoche der Renaissance erlangte der Einzelne eine Bedeutung wie nie zuvor. Weder in der Antike noch im Mittelalter gab es ein solch brennendes Interesse an der menschlichen Existenz in all ihrer Vielgestaltigkeit. Am meisten geschätzt wurde in dieser Zeit das Besondere und Einzigartige jedes Individuums. Der feine künstlerische Geschmack war überall darauf aus, dieses Besondere zu erkennen und hervorzuheben; Originalität und das Sich-Unterscheiden von anderen wurden zum wichtigsten Merkmal einer großen Persönlichkeit.

Oft trifft man deshalb die Behauptung, dass im Zeitalter der Renaissance überhaupt zum ersten Mal das Konzept der Person in seiner heutigen Bedeutung geformt wurde. In der Tat, wenn wir das Konzept der Person mit dem der Individualität gleichsetzen, so ist diese Aussage durchaus berechtigt. Allerdings muss in Wirklichkeit zwischen der Person und der Individualität unterschieden werden. Individualität ist eine ästhetische Kategorie, während die Person eine moralisch-ethische ist. Wenn wir den Menschen danach betrachten, wie und wodurch er sich von allen anderen unterscheidet, so blicken wir auf ihn gewissermaßen von außen, mit den Augen des Künstlers; in diesem Fall wenden wir nur ein einziges Kriterium an — das der Originalität. Was jedoch die Person betrifft, so ist hier das Wesentliche etwas anderes: die Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden und entsprechend dieser Unterscheidung zu handeln. Damit erscheint die zweite wesentliche Eigenschaft der Person — die Fähigkeit, Verantwortung für das eigene Handeln zu tragen. Und es ist bei weitem nicht immer so, dass die Bereicherung der Individualität mit der Entwicklung und Vertiefung der Person übereinstimmt; ästhetische und moralisch-ethische Aspekte der Entwicklung können erheblich auseinandergehen. So war die reiche Entwicklung der Individualität im 14. bis 16. Jahrhundert häufig mit extremen Formen des Individualismus verbunden; die Selbstwertschätzung der Individualität bedeutete die Absolutsetzung des ästhetischen Ansatzes zum Menschen.

Pantheismus als spezifisches Merkmal der Naturphilosophie der Renaissance

In der Epoche der Renaissance wendet sich die Philosophie erneut der Untersuchung der Natur zu. Das Interesse an der Naturphilosophie wächst gegen Ende des 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts, als die mittelalterliche Auffassung von der Natur als unselbstständigem Bereich überdacht wird. Auf den ersten Blick könnte man meinen, es vollziehe sich eine Rückkehr zum kosmozentrischen Denken der Antike. Doch im Verständnis der Natur, wie auch in der Deutung des Menschen, weist die Philosophie der Renaissance ihre eigene Besonderheit auf. Diese Besonderheit äußert sich vor allem darin, dass die Natur pantheistisch interpretiert wird. Der Begriff “Pantheismus“, aus dem Griechischen übersetzt als “Gott in allem“, bedeutet hier, dass der christliche Gott seine transzendente Eigenschaft verliert; er verschmilzt gewissermaßen mit der Natur, welche dadurch vergöttlicht wird und Eigenschaften erhält, die ihr in der Antike in dieser Form nicht zugeschrieben wurden. Die Naturphilosophen der Renaissance, wie der berühmte deutsche Arzt, Alchemist und Astrologe Paracelsus (1493—1541), sehen in der Natur ein lebendiges Ganzes, durchzogen von magischen Kräften, die sich nicht nur im Bau und in den Funktionen der lebenden Wesen — Pflanzen, Tiere, Menschen, Engel und Dämonen — manifestieren, sondern auch in den leblosen Elementen. Paracelsus stellt ein spezielles System von Analogien zwischen verschiedenen Organen des Menschen und der Tiere einerseits und den Teilen der Pflanzen, dem Bau der Mineralien und den Bewegungen der Himmelskörper andererseits auf. Die ganze Natur, so Paracelsus, muss aus den drei alchemistischen Elementen — Quecksilber, Schwefel und Salz — verstanden werden: Quecksilber entspricht dem Geist, Schwefel der Seele, und Salz dem Körper. So wie in einem Menschen die Seele die Körperfunktionen lenkt, so enthält auch jedes Teil der Natur ein beseeltes Prinzip — den Archäus. Daher ist es notwendig, dieses Prinzip zu verstehen, mit ihm in eine Art magischen Kontakt zu treten und zu lernen, es zu beherrschen.

Dieses magisch-alchemistische Verständnis der Natur ist charakteristisch für das 15. bis 16. Jahrhundert. Obwohl es Überschneidungen mit der antiken Vorstellung von der Natur als einem zusammenhängenden und sogar beseelten Kosmos gibt, unterscheidet es sich wesentlich durch seinen aktivistischen Geist, das Streben, die Natur durch geheime, okkulte Kräfte zu beherrschen. Kein Wunder also, dass die Naturphilosophen der Renaissance die antike Wissenschaft kritisierten, vor allem die Physik Aristoteles’, die ihnen zu rationalistisch und zu bodenständig erschien, da sie beinahe vollständig des magischen Elements beraubt war und ein striktes Unterscheidungskriterium zwischen beseelten Wesen und den leblosen Elementen — Feuer, Luft, Wasser und Erde — zog. Der Neuplatonismus war dem Denken der Renaissance viel näher, zumal er seit dem 13. und 14. Jahrhundert als Gegensatz zum späten Aristotelismus der Scholastik galt. Von den Neuplatonikern entlehnte die Naturphilosophie das Konzept der Weltseele, das im Mittelalter als heidnisch abgelehnt wurde, nun aber zunehmend an die Stelle des transzendenten christlichen Gottes trat. Mit diesem Konzept versuchten die Naturphilosophen, die Idee der Schöpfung zu eliminieren: Die Weltseele wurde als immanente Lebensenergie der Natur verstanden, durch die die Natur ihre Selbstständigkeit erlangt und nicht mehr auf ein jenseitiges Prinzip angewiesen ist.

Nikolaus von Kues und das Prinzip der Zusammenfallens der Gegensätze

Ein herausragender Vertreter der Philosophie der Renaissance war Nikolaus von Kues (1401—1464). Die Analyse seiner Lehre ermöglicht es, die Unterschiede zwischen der antiken und der renaissancistischen Auffassung des Seins besonders klar zu erkennen.

Nikolaus von Kues orientierte sich, wie die meisten Philosophen seiner Zeit, an der Tradition des Neoplatonismus. Dabei überdachte er jedoch die Lehren der Neoplatoniker, beginnend mit ihrem zentralen Begriff des Einen. Bei Platon und den Neoplatonikern, wie wir wissen, wird das Eine durch den Gegensatz zum “Anderen“, zum Nicht-Einen, charakterisiert. Diese Charakterisierung geht auf die Pythagoreer und die Eleaten zurück, die das Eine dem Vielen und das Begrenzte dem Unbegrenzten gegenüberstellten. Nikolaus von Kues, der die Prinzipien des christlichen Monismus teilt, lehnt den antiken Dualismus ab und erklärt, dass “dem Einen nichts entgegengesetzt ist“. Daraus zieht er die prägnante Schlussfolgerung: “Das Eine ist alles“ — eine Formel, die pantheistisch klingt und direkt auf den Pantheismus von Giordano Bruno verweist.

Diese Formel ist mit dem christlichen Theismus unvereinbar, der das Schöpfung (alles) vom Schöpfer (dem Einen) unterscheidet. Doch ebenso wichtig ist, dass sie sich auch von der Konzeption der Neoplatoniker unterscheidet, die das Eine niemals mit “dem Alles“ gleichsetzten. Hier tritt nun ein neuer, renaissancistischer Ansatz zur ontologischen Problematik hervor. Aus der Feststellung, dass dem Einen nichts entgegengesetzt ist, schließt Nikolaus von Kues, dass das Eine mit dem Unendlichen identisch ist. Das Unendliche ist das, was mehr ist als alles andere. Daher wird es als “Maximum“ charakterisiert, während das Eine als “Minimum“ bezeichnet wird. Nikolaus von Kues eröffnete damit das Prinzip des Zusammenfallens der Gegensätze (coincidentia oppositorum) — von Maximum und Minimum. Um dieses Prinzip anschaulicher zu machen, wendet er sich der Mathematik zu und zeigt, dass bei einer Vergrößerung des Radius eines Kreises bis ins Unendliche der Umfang in eine unendliche Gerade übergeht. Bei diesem maximalen Kreis wird der Durchmesser mit dem Umfang identisch, mehr noch — nicht nur der Durchmesser, sondern auch der Mittelpunkt stimmen mit dem Umfang überein, sodass der Punkt (Minimum) und die unendliche Gerade (Maximum) dasselbe darstellen. Ein ähnlicher Sachverhalt tritt bei einem Dreieck auf: Wenn eine seiner Seiten unendlich ist, werden auch die anderen beiden unendlich sein. So wird gezeigt, dass die unendliche Linie sowohl Dreieck, Kreis als auch Kugel ist.

Das Zusammenfallen der Gegensätze ist ein wesentlicher methodologischer Grundsatz in der Philosophie Nikolaus von Kues, was ihn zu einem der Begründer der neuzeitlichen Dialektik macht. Bei Platon, einem der größten Dialektiker der Antike, finden wir keine Lehre vom Zusammenfall der Gegensätze, da die antike Philosophie durch Dualismus geprägt war, der die Idee (oder Form) von der Materie, das Eine vom Unendlichen trennte. Im Gegensatz dazu wird bei Nikolaus von Kues das Eine nun durch den Begriff der tatsächlichen Unendlichkeit ersetzt, die wiederum das Zusammenführen der Gegensätze — des Einen und des Unendlichen — bedeutet.

Die zwar nicht immer konsequent durchgeführte Identifikation des Einen mit dem Unendlichen führte später zu einer Umgestaltung der Prinzipien nicht nur der antiken Philosophie und mittelalterlichen Theologie, sondern auch der antiken und mittelalterlichen Wissenschaften — der Mathematik und der Astronomie.

Die Rolle, die bei den Griechen das Unteilbare (die Einheit) spielte und als Maßstab für das Sein insgesamt sowie für jede Art von Sein fungierte, übernimmt bei Nikolaus von Kues das Unendliche — es wird nun als Maßstab für alles Sein betrachtet. Wenn das Unendliche zum Maß wird, dann ist das Paradoxon der Synonym für wahres Wissen. Und in der Tat folgt aus den Annahmen des Denkers: “...wenn eine unendliche Linie aus einer unendlichen Zahl von Segmenten von einer Handbreite bestehen würde und eine andere aus einer unendlichen Zahl von Segmenten von zwei Handbreiten, wären sie dennoch notwendig gleich, da Unendlichkeit nicht größer als Unendlichkeit sein kann.“ Wie wir sehen, verschwinden alle endlichen Unterschiede angesichts der Unendlichkeit, und die Zwei wird der Eins, der Drei und jeder anderen Zahl gleich.

Wie Nikolaus von Kues zeigt, verhält es sich in der Geometrie ebenso wie in der Arithmetik. Die Unterscheidung zwischen rationalen und irrationalen Verhältnissen, auf denen die Geometrie der Griechen basierte, erklärt er für bedeutungslos, da sie nur für die niedere geistige Fähigkeit des Verstandes von Bedeutung ist, nicht aber für den höheren Verstand. Die gesamte Mathematik, einschließlich der Arithmetik, Geometrie und Astronomie, ist nach seiner Überzeugung ein Produkt der Tätigkeit des Verstandes; der Verstand drückt seinen grundlegenden Grundsatz gerade in dem Verbot des Widerspruchs aus, das heißt, im Verbot, Gegensätze zu vereinen. Nikolaus von Kues führt uns zurück zu Zenon mit seinen Paradoxa der Unendlichkeit, jedoch mit dem Unterschied, dass Zenon die Paradoxa als Mittel zur Zerstörung falschen Wissens ansah, während Nikolaus von Kues sie als Mittel zur Schaffung wahren Wissens betrachtet. In der Tat hat dieses Wissen jedoch eine besondere Art — es ist “weise Unwissenheit“.

Die These des Unendlichen als Maß führt auch zu einer Umgestaltung der Astronomie. Wenn in den Bereichen der Arithmetik und Geometrie das Unendliche als Maß das Wissen über endliche Verhältnisse in eine Annäherung verwandelt, so führt dieses neue Maß in die Astronomie zudem das Prinzip der Relativität ein. Und tatsächlich: Da die genaue Bestimmung der Größen und der Form des Universums nur durch Bezugnahme auf das Unendliche gegeben werden kann, lassen sich im Universum Zentrum und Umfang nicht unterscheiden. Das Denken Nikolaus von Kues hilft, den Zusammenhang zwischen der philosophischen Kategorie des Einen und der kosmologischen Vorstellung der Antike über das Vorhandensein eines Zentrums der Welt zu verstehen, und damit — über dessen Endlichkeit. Die von ihm vollzogene Identifikation des Einen mit dem Unendlichen zerstört das Bild des Kosmos, das nicht nur Platon und Aristoteles, sondern auch Ptolemäus und Archimedes zugrunde lag. Für die antike Wissenschaft und die meisten Vertreter der antiken Philosophie war das Universum ein sehr großes, aber endlich begrenztes Körper. Das Kennzeichen der Endlichkeit eines Körpers ist die Möglichkeit, in ihm Zentrum und Peripherie, “Anfang“ und “Ende“ zu unterscheiden. Nach Nikolaus von Kues ist das Zentrum und der Umfang des Kosmos Gott, und daher, obwohl die Welt nicht unendlich ist, kann man sie auch nicht als endlich begreifen, da sie keine Grenzen hat, zwischen denen sie geschlossen wäre.

Die unendliche Universum von Nikolaus Kopernikus und Giordano Bruno. Heliozentrismus

Die oben genannten Überlegungen widersprechen den Prinzipien der aristotelischen Physik, die auf der Unterscheidung zwischen der höheren, überirdischen und der niedrigeren, unterirdischen Welt basiert. Nikolaus von Kues zerstört das antike und mittelalterliche kosmologische Modell, das ein geozentrisches Weltbild mit einer unbeweglichen Erde im Zentrum vertritt. Auf diese Weise bereitet er die kopernikanische Revolution in der Astronomie vor, die den geozentrischen Kosmos der aristotelischen und ptolemäischen Weltvorstellung beseitigte. In der Folge wendet sich Nikolaus Kopernikus (1473—1543) dem Prinzip der Relativität zu und gründet auf ihm sein neues astronomisches System.

Die für Nikolaus von Kues charakteristische Tendenz, das höhere Prinzip des Seins als Identität von Gegensätzen (dem Einen und dem Unendlichen) zu denken, war das Resultat eines pantheistisch gefärbten Zusammenführens von Gott und Welt, des Schöpfers und der Schöpfung. Diese Tendenz vertiefte sich noch weiter bei Giordano Bruno (1548—1600), der eine konsequente pantheistische Lehre formulierte, die dem mittelalterlichen Theismus feindlich gegenüberstand. Bruno stützte sich nicht nur auf Nikolaus von Kues, sondern auch auf die heliozentrische Astronomie von Kopernikus. Nach Kopernikus' Lehre rotiert die Erde erstens um ihre eigene Achse, was den Wechsel von Tag und Nacht sowie die Bewegung des Himmelsgewölbes erklärt. Zweitens rotiert die Erde um die Sonne, die Kopernikus ins Zentrum des Weltalls stellte. Damit zerstört Kopernikus das grundlegende Prinzip der aristotelischen Physik und Kosmologie, indem er das Konzept der Endlichkeit des Universums verwarf. Wie auch Nikolaus von Kues, ist Kopernikus der Ansicht, dass das Universum unmessbar und unendlich ist; er bezeichnet es als “dem Unendlichen ähnlich“, während er gleichzeitig darauf hinweist, dass die Größe der Erde im Vergleich zur Größe des Universums unmerklich klein ist.

Indem er das Universum mit dem unendlichen Gott identifiziert, erhält Bruno das Bild eines unendlichen Universums. Weiterhin hebt er die Grenze zwischen Schöpfer und Schöpfung auf, wodurch er die traditionelle Unterscheidung zwischen Form als Anfang des Unteilbaren, also des Aktiven und Kreativen einerseits, und Materie als Anfang des Unendlichen, also des Passiven andererseits, zerstört. Bruno überträgt somit der Natur das, was im Mittelalter Gott zugeschrieben wurde: den aktiven, schöpferischen Impuls. Doch er geht noch weiter, indem er der Materie das Leben und die Bewegung überträgt, die seit Platons und Aristoteles' Zeiten als der Form zugeschrieben wurden. Für Bruno ist die Natur “Gott in den Dingen“.

Es ist nicht überraschend, dass Brunos Lehre von der Kirche als ketzerisch verurteilt wurde. Die Inquisition verlangte, dass der italienische Philosoph von seiner Lehre abfalle. Doch Bruno bevorzugte den Tod vor dem Widerruf und wurde auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

Das neue Verständnis des Verhältnisses zwischen Materie und Form zeugt davon, dass sich im 16. Jahrhundert ein Bewusstsein entwickelte, das sich wesentlich von dem antiken unterscheidet. Wenn für den antiken griechischen Philosophen das Vollkommene und Ganze das Unvollständige übertrifft, das Abgeschlossene das Unvollendete, so bedeutet für den Philosophen der Renaissance, dass die Möglichkeit reicher ist als das Aktuelle, Bewegung und Werden vor dem unbeweglichen und unveränderlichen Sein stehen. Und es ist kein Zufall, dass in dieser Zeit das Konzept der Unendlichkeit besonders anziehend wurde: Die Paradoxa der aktuellen Unendlichkeit spielen nicht nur bei Nikolaus von Kues und Bruno eine wichtige Rolle, sondern auch bei herausragenden Wissenschaftlern des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts wie Galileo Galilei und Bonaventura Cavalieri.