Ein Leitfaden zur Philosophie: Ein Blick auf Schlüsselkonzepte und Ideen - 2024
Die Anthropologie von Feuerbach
Deutsche klassische Philosophie
Geschichte der westlichen Philosophie
Eine der markantesten Versuche, Hegel “vom Kopf auf die Füße zu stellen“, war die Philosophie von Ludwig Feuerbach (1804—1872). Nach seinem Studium an den Universitäten in Heidelberg und Berlin unterrichtete Feuerbach von 1828 bis 1830 in Erlangen, wurde jedoch nach der Veröffentlichung seiner freidenkerischen “Gedanken über Tod und Unsterblichkeit“ aus dem Universitätsdienst entlassen. Nachdem er die Universität verlassen hatte, führte Feuerbach ein zurückgezogenes Leben als “freier Philosoph“. In dieser Zeit verfasste er seine Hauptwerke: “Das Wesen des Christentums“ (1841), “Grundsätze der Philosophie der Zukunft“ (1843) und “Vorlesungen über das Wesen der Religion“ (1851).
Ähnlich wie Hegel widmete sich Feuerbach intensiven theologischen Fragestellungen. Doch im Gegensatz zu Hegel glaubte er nicht, dass Gott eine reale Existenz besitze. Der Geist sei überhaupt sekundär, während die Natur primär sei. Der göttliche Geist sei lediglich eine Projektion der menschlichen Gattungsessenz, die durch Vernunft, Wille und “Herz“ — also Emotionen — gebildet werde. Die Entfremdung des Menschen von seiner eigenen Essenz erfolgt in mehreren Stufen. Als die Menschen ihre Existenz von unbekannten Naturkräften abhängig erkannten, fühlten sie das Bedürfnis, diese Kräfte zu beherrschen. Indem sie diese Kräfte anthropomorphisierten, versuchten sie, einen Dialog mit der Natur zu führen. Zunächst stellten sich die Menschen die göttlichen Wesen, die hinter den Naturphänomenen standen, in groben körperlichen Formen vor. Doch allmählich reinigten sie ihre Vorstellungen von den Göttern von zufälligen Elementen, und im Göttlichen trat immer mehr die unendliche, einheitliche menschliche Gattungsessenz hervor. Dieser Prozess fand seinen Höhepunkt im Christentum und in der dazugehörigen Philosophie von Hegel.
Die Verbesserung des Gottesbegriffs, so Feuerbach, hat jedoch tiefgreifende Folgen für den Menschen. Je vollkommener Gott gedacht wird, desto unvollkommener erscheint der Mensch sich selbst. Die Religion entleert die menschliche Natur, indem sie den Menschen fast zu nichts macht, zu einem Gefäß von Sünde und Verfall. Doch dieser Prozess kann nicht ewig andauern. Es kommt eine Zeit, in der die Menschen beginnen zu begreifen, dass Gott ihre eigene Essenz ist, aus ihnen herausgepreßt und von ihnen selbst in den Himmel versetzt. Diese Erkenntnis schafft die Grundlage, die Entfremdung des Menschen von sich selbst zu überwinden. Die entfremdete menschliche Essenz muss vom Himmel abgenommen und dem Menschen wieder zurückgegeben werden. Dies bedeutet nicht den Verzicht auf Religion. Sie bleibt, wird aber zur Religion des Menschen.
Der Mensch muss für den anderen Menschen Gott werden. Die Göttlichkeit des Menschen kann sich nur in der “Dialektik von Ich und Du“ manifestieren, die seine gattungsmäßige Natur offenbart. Das zentrale “Gattungs“-Verhältnis zwischen den Menschen betrachtete Feuerbach als die Liebe zwischen Mann und Frau. Er verlieh der Liebe fundamentale Bedeutung. Gerade die Liebe, so Feuerbach, widerlegt am besten den Solipsismus, das heißt, sie kann Zeugnis ablegen für die Existenz eines Daseins jenseits des Ich. Liebe als Hauptgefühl soll den Sinn des Lebens ausmachen. Denken ist sekundär und muss von den Gefühlen lernen. Spekulatives Denken hingegen ist für Feuerbach völlig nutzlos. “Meine Philosophie“, sagte er, “besteht darin, keine Philosophie zu haben.“ Mit anderen Worten, “wahre Philosophie besteht nicht darin, Bücher zu schaffen, sondern Menschen zu schaffen“. Feuerbachs Anthropologie wurde zu einem Wendepunkt, der von der spekulativen Metaphysik der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum Marxismus und zur Lebensphilosophie führte, die neben dem Positivismus die kulturelle Landschaft Europas in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dominierten.