Die Entstehung der irrationalistischen Philosophie - Geschichte der westlichen Philosophie

Ein Leitfaden zur Philosophie: Ein Blick auf Schlüsselkonzepte und Ideen - 2024



Die Entstehung der irrationalistischen Philosophie

Geschichte der westlichen Philosophie

Die Geschichte der Philosophie lässt sich nicht als linearer Prozess deuten. Vielmehr zeigt sie einen zyklischen Charakter. Das Erschöpfen der inneren Möglichkeiten einer bestimmten Tradition führt dazu, dass neue Generationen von Denkern es als ihre Pflicht betrachten, alte Tafeln zu zerbrechen und alternative Wege des philosophischen Schaffens zu erkunden. Diese Wege führen ebenfalls früher oder später in eine Sackgasse, doch anfangs üben die neuen Gedankengänge eine Anziehungskraft durch die Lebendigkeit ihrer Ansichten aus.

Ein solcher Bruch in den philosophischen Paradigmen und die Entstehung neuer Traditionen ereignete sich in der deutschen Philosophie Mitte des 19. Jahrhunderts. Hauptgegenstand der Kritik war das System Hegels. Die Natur der Hegelschen Philosophie selbst schien die Möglichkeit einer schrittweisen Reformierung auszuschließen. Schließlich war eine der Besonderheiten des von Hegel geschaffenen Systems sein allumfassender Charakter. Keine bedeutende philosophische Frage ließ er unbeachtet und bewies, dass alle Teile seiner Lehre notwendigerweise miteinander verknüpft waren.

Ein solches System war eher zu stürzen als zu reformieren. Doch um Hegel zu kritisieren, mussten in seinen Theorien strittige Positionen oder Schwachstellen gefunden werden. In einem früheren Abschnitt sahen wir, dass das Verhältnis zwischen menschlichem und göttlichem Geist als eine solche Schwachstelle angesehen werden könnte. Hegel betrachtete die göttliche Idee als den Kern des Seins, wobei die Rolle des Menschen auf die Vermittlung ihres Selbstbewusstseins, des absoluten Geistes, reduziert wurde. Man könnte jedoch annehmen, dass in Wirklichkeit der Mensch selbst die eigentliche Realität besitzt und dass der absolute Geist und die göttliche Idee nur Produkte seines Denkens sind. Genau dies tat Feuerbach. Doch dies war nicht die einzige mögliche Reaktion auf Hegels Idealismus. Denn indem Feuerbach Hegel “vom Kopf auf die Füße“ stellte, bewahrte er den Universalismus seiner Annahmen. Der Mensch, von dem Feuerbach sprach, ist eher kein Individuum, sondern der universelle oder “absolute“ Mensch — die Menschheit oder zumindest die Einheit von Ich und Du. Marx verstärkte später diesen Aspekt noch, indem er argumentierte, dass das Wesen des Menschen die Gesamtheit der gesellschaftlichen Verhältnisse sei.

Der ontologische Vorrang des Allgemeinen vor dem Einzelnen, der sich in Hegels System und in den Lehren seiner junghegelianischen Kritiker (trotz aller Beteuerungen, dass das Allgemeine das Einzelne nicht zerstöre) abzeichnet, ist jedoch keineswegs offensichtlich wahr. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich unter den Gegnern der Hegelschen Philosophie Denker fanden, die gerade auf diesen Umstand hinwiesen. In diesem Zusammenhang sei etwa der Sohn von I. G. Fichte, Immanuel Hermann Fichte (1796—1879), oder Max Stirner (1806—1856) erwähnt, der in seinem Werk “Der Einzige und sein Eigentum“ das Prinzip “Für Mich gibt es nichts Höheres als Mich“ verkündete. Doch der bekannteste Vertreter der antihegelschen Metaphysik des Individuellen wurde der Däne Søren Kierkegaard (1813—1855).

Kierkegaard — Autor zahlreicher umfangreicher Schriften, von denen die meisten unter Pseudonym veröffentlicht wurden — suchte, zwischen Wissenschaft und künstlerischer Prosa balancierend, nach einer echten Alternative zur Hegelschen Lehre vom Menschen. Die Auflösung im Allgemeinen, so Kierkegaard, sei tödlich für die Persönlichkeit. In einem solchen Fall könne man sie nicht einmal als existierend bezeichnen. Wahres Dasein finde sich in den Handlungen des Individuums, im Akt seiner freien Wahl. Freiheit ist furchteinflößend, doch diese Furcht ist notwendig für ihre Verwirklichung: sie ist die “Möglichkeit der Freiheit.“

Der Mensch, meinte Kierkegaard, könne seine Freiheit auf unterschiedliche Weise entfalten, und die grundlegenden Möglichkeiten ihrer Verwirklichung entsprächen den Stadien seines Lebensweges: dem ästhetischen, dem ethischen und dem religiösen. Der “ästhetische“ Mensch ergeht sich in sinnlichen Vergnügungen, gerät in Verzweiflung und überwindet sie durch den Entschluss, nach dem Gesetz der Pflicht zu leben. Doch wenn er ehrlich zu sich selbst ist, muss er früher oder später erkennen, dass die Pflicht ohne göttliche Unterstützung, die sich keiner rationalen Ordnung fügt, unerfüllbar ist. Das Erkennen dieses Umstandes erleichtert den Übergang zur religiösen Stufe. Erst in dieser Phase, die Lebendigkeit der ästhetischen und die Gedankentiefe der moralischen Stufe vereinigend, erreicht der Mensch die wahre Individualität des Geistes. Doch diese Vereinigung findet nicht im Denken statt, wie es bei Hegel der Fall wäre, sondern im Glauben. Die Einzigartigkeit des Ichs lässt sich nicht mit dem Verstand formen, sie entsteht nur in Situationen objektiver Ungewissheit. Wahre Existenz ist immer ein Risiko, ein Abenteuer, das von außen betrachtet wie ein Absurdität wirken kann — wie bei Abraham, der beinahe seinen Sohn auf Befehl Gottes tötete. Abraham ist ein “Ritter des Glaubens,“ doch Kierkegaard möchte keineswegs sagen, dass alle ihm nacheifern und etwa irgendwelchen Stimmen vom Himmel lauschen sollten. Er versucht lediglich, den Zustand zu beschreiben, der in Momenten des echten Daseins beim Menschen aufkommt.

Im 20. Jahrhundert sahen viele in Kierkegaards Überlegungen eine Vorwegnahme der Ideen der existenziellen Philosophie. Doch im Gegensatz zu den zentralen Figuren der Existenzphilosophie — Heidegger, Sartre und Camus — hielt Kierkegaard eine Verwirklichung der menschlichen Essenz ohne das Verhältnis des Menschen zu Gott für unmöglich.

Hier zeigt sich möglicherweise der Einfluss Hegelscher Ideen, die Kierkegaard letztlich nicht vollständig überwand. Viele Gegner Hegels schlichen durch die Hintertür seine Ideen in ihre Philosophie ein. Zum Teil trifft dies sogar auf den erbittertsten Widersacher Hegels — A. Schopenhauer — zu. Anders als die ungeordneten Angriffe gegen Hegel seitens der genannten Philosophen stellte Schopenhauer dessen System jedoch ein anderes gegenüber, das ihm in Struktur in nichts nachstand und es an Klarheit der Prinzipien übertraf. Dabei war Schopenhauers Philosophie in ihrem Geist völlig entgegengesetzt zu der Hegelschen. Hegel war in Fragen des Wissens, des Seins und der Geschichte ein großer Optimist, während sich Schopenhauer als Pessimist verstand und nicht an den Fortschritt der Menschheit glaubte. Außerdem fand bei Schopenhauer die irrationalistische Tendenz, die sich bei allen Gegnern Hegels in gewissem Maße zeigte, ihren stärksten Ausdruck: Wer den Über-Rationalisten oder Panlogisten kritisiert, neigt zwangsläufig zum Lager des Irrationalismus.