Ein Leitfaden zur Philosophie: Ein Blick auf Schlüsselkonzepte und Ideen - 2024
Die Metaphysik Schopenhauers
Die Entstehung der irrationalistischen Philosophie
Geschichte der westlichen Philosophie
Arthur Schopenhauer wurde 1788 in Danzig (heute Gdańsk) geboren. Bereits im Alter von 17 Jahren, erinnerte er sich, “ohne jegliche schulische Gelehrsamkeit war ich ebenso von dem Gefühl des Weltschmerzes ergriffen, wie Buddha in seiner Jugend, als er Krankheit, Alter, Leid und Tod erblickte“. Beim Nachdenken über die Nöte der Welt kam Schopenhauer zu dem Schluss, dass “diese Welt nicht das Werk eines allgütigen Wesens sein konnte, sondern zweifellos das Werk eines Teufels, der die Kreaturen ins Dasein rief, um sich am Anblick des Leids zu ergötzen“. Diese zutiefst pessimistische Sicht wurde jedoch bald von Schopenhauer dahingehend modifiziert, dass er erklärte, obgleich die verschiedenen Nöte untrennbar mit dem Dasein der Welt verbunden seien, sei eben diese Welt nur ein notwendiges Mittel zur Erreichung des “höchsten Gutes“. Diese Verschiebung der Akzente änderte auch Schopenhauers Auffassung von der tiefsten Wesensart der Welt. Aus dem diabolischen Ursprung wurde eher ein unvernünftiges, jedoch unbewusst nach Selbsterkenntnis strebendes Prinzip. Die sinnliche Welt verlor ihre eigenständige Realität und erschien als ein alptraumhafter Traum, der das Unvernünftige des Weltwesens enthüllte und zu einem “höheren Bewusstsein“ drängte.
Mit der Zeit nahmen diese Gedanken bei Schopenhauer immer klarere terminologische Konturen an. Doch bedeutet dies nicht, dass Schopenhauer von seinen jugendlichen Eingebungen direkt zur Schaffung eines philosophischen Systems schritt. Sein Weg zur Philosophie war keineswegs einfach, und er erkannte erst allmählich, worin seine wahre Berufung bestand.
Trotz seines Interesses an den Wissenschaften entschied sich der zukünftige Philosoph unter dem Einfluss seines Vaters für eine Laufbahn im Handel. Doch bald, nach dem Tod des Vaters im Jahr 1805, ließ er diesen Weg hinter sich und setzte seine Studien an den Universitäten Göttingen und Berlin fort. Nach der Verteidigung seiner Doktorarbeit und der Veröffentlichung unter dem Titel Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde im Jahr 1813 begann er mit der Abfassung seines Werkes Die Welt als Wille und Vorstellung. Nach der Fertigstellung 1818 und der Übergabe des Manuskripts an den Verlag unternahm er eine Reise durch Europa, um sich schließlich 1820 als Privatdozent an der Berliner Universität anzuschließen.
Schopenhauer bestand darauf, dass sein Vorlesungskurs zur gleichen Zeit angesetzt wurde wie die Lehrveranstaltungen Hegels. Hegel rief bei Schopenhauer — ebenso wie Fichte und Schelling — eine völlige Ablehnung hervor. Er hielt sie für “Sophisten“, die die großen Ideen Kants entstellten und das Publikum täuschten. Doch mit Hegel zu konkurrieren war sehr schwierig. Die Studenten zeigten kein Interesse an Schopenhauers Lehre, und in den folgenden Jahren musste er seine Kurse aufgrund mangelnder Teilnehmerzahl absagen.
Nach 1831 brach Schopenhauer endgültig mit der Universität und ließ sich nach einiger Zeit in Frankfurt am Main nieder, wo er die letzten Jahrzehnte seines Lebens verbrachte. Er schloss sich von äußeren Ablenkungen ab und konzentrierte sich auf die Erläuterung der Hauptgedanken seines Hauptwerkes Die Welt als Wille und Vorstellung. Zunächst gelang dies nur mäßig, doch nach der Veröffentlichung des Artikelsammelbandes Parerga und Paralipomena im Jahr 1851 änderte sich die Lage. Schopenhauer gewann Schüler und Anhänger und erlangte Ruhm als der erste Denker Deutschlands, als der “neue Kaiser der deutschen Philosophie“. Schopenhauer starb 1860 an einer Lungenlähmung. In seinem letzten Text — einem Brief, den er drei Wochen vor seinem Tod verfasste — rief er zur Lektüre von Kants Kritik der reinen Vernunft auf und betonte die Unlösbarkeit der ultimativen metaphysischen Fragen.
Schopenhauer war stolz auf die Geschlossenheit seines philosophischen Gedankengebäudes, das er in Die Welt als Wille und Vorstellung darlegte. Doch betonte er, dass er nie gezielt auf die Schaffung eines Systems hinarbeitete; er legte seine philosophischen Ansichten in Form von Aphorismen “praktischer Lebensweisheit“ dar. Indem er dem Weltgeschehen lauschte, nahm er dessen Wahrheiten auf und “kühlte“ sie in begrifflicher Form. Die Zusammengehörigkeit dieser Wahrheiten zeigte sich, wie Schopenhauer sagte, von selbst. Gleichzeitig war er kein Visionär und hatte die kritischen Lehren der Kantischen Philosophie tief verinnerlicht. Neben Kant übten auch Platon und die altindische Philosophie Einfluss auf ihn aus.
Die Philosophie, so sagte Schopenhauer, beginne mit dem Bewusstsein der Rätselhaftigkeit des Daseins und ziele darauf ab, das Welträtsel zu lösen, indem sie nach der Wesenheit der Welt fragt. Schopenhauer meinte, dass noch niemand diesem Ziel so nahegekommen sei wie er selbst.
Die Welt existiert laut Schopenhauer in zweifacher Weise: als Vorstellung und als Ding an sich. Die Welt als Vorstellung ist die Welt, wie sie dem menschlichen Subjekt erscheint, das die apriorischen Formen der Sinnlichkeit und des Verstandes — nämlich Raum, Zeit und das Kausalitätsgesetz — auf das Wesen der Welt als Ding an sich überträgt. In der Auffassung der Welt als Vorstellung folgt Schopenhauer im Wesentlichen Kant, indem er die Hauptlehren dessen Theorie von Sinnlichkeit und Verstand übernimmt, jedoch die Kantische Kategorienlehre erheblich verkürzt. Nur eine der zwölf Kantischen Kategorien, die der Kausalität, wird tatsächlich für die Wahrnehmung der Phänomene benötigt.
Raum und Zeit veranschaulichen eine besondere Variante des Prinzips des zureichenden Grundes, nämlich das Gesetz des Seinsgrundes, also des Daseins ihrer Teile in Bezug zueinander (so ist beispielsweise der Grund des Daseins des gegenwärtigen Augenblicks das Ende des vorangegangenen Moments). Veränderungen in Raum und Zeit erfolgen nach dem Gesetz des Werdensgrundes, also der Kausalität, und im Falle innerer Veränderungen nach dem Gesetz der Motivation oder des Handlungsgrundes. Die Erkenntnis der Beziehung verschiedener Vorstellungen geschieht gemäß dem Gesetz des Erkenntnisgrundes, wobei das letztgültige Fundament der Wahrheit abstrakter Vorstellungen ihre Verwurzelung in Anschauungen ist.
Obwohl die Anschauungen auf diese Weise “erste Quelle jeder Evidenz“ und sogar “absolute Wahrheit“ darstellen, ist die in ihnen gegebene Welt fernab jeglicher Absolutheit. Das in ihr herrschende Gesetz des Grundes, so Schopenhauer, betont gerade ihre Abhängigkeit. Denn dieses Gesetz zeigt die Bedingtheit eines jeden Teils der Welt, das zu seinem Dasein auf etwas anderes angewiesen ist, also kein eigenständiges Sein besitzt. Dies gilt nicht nur für Teile der Welt, sondern auch für die Welt der Erscheinungen als Ganzes: Sie existiert nur im Vorstellen des Subjekts.
Doch die Welt ist nicht nur Vorstellung, sie ist auch etwas an sich. Der Zugang zum Ding an sich befindet sich im Menschen selbst. Der Mensch ist sich schließlich nicht nur von außen, sondern auch von innen bekannt. Äußerlich erscheint er als Körper, als ein komplexer biologischer Mechanismus mit zahlreichen Organen und Funktionen. In anderen Menschen sehen wir nur diese äußere Hülle. Doch in uns selbst erkennen wir etwas darüber hinaus. Jeder bemerkt beispielsweise, dass die Bewegung seiner Hände und anderer Körperteile gewöhnlich mit einem inneren Antrieb einhergeht. Solche Zustände nennt man Willensakte. Diese können nicht durch äußere Sinne wahrgenommen werden, sie sind nicht im Raum verortet.
Schopenhauer war überzeugt, dass das Bewusstsein all dieser Umstände verdeutlicht, dass körperliche Bewegungen sogenannte Objektivationen von Willensakten sind. Diese stellen keineswegs die Ursachen dieser Bewegungen dar, wie manchmal irrtümlich behauptet wird. Sie sind vielmehr dieselben Bewegungen, nur von innen betrachtet, an sich.
Allerdings behauptete Schopenhauer nicht, dass die Willensakte genau dem menschlichen Niveau als Ding an sich entsprechen. Denn diese Akte geschehen in der Zeit, und die Zeit ist eine Form des inneren Sinns, der uns wiederum nur Erscheinungen und nicht die Dinge an sich eröffnet. Gleichwohl erlaubt es uns gerade der innere Sinn, so Schopenhauer, eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie die Dinge an sich beschaffen sein könnten. Schließlich sind seine Gegenstände den Dingen an sich näher als materielle Objekte, die nicht nur durch die Zeit, sondern auch durch den Raum von diesen getrennt sind.
Kurz gesagt, über Dinge an sich lässt sich, sofern überhaupt darüber zu sprechen ist, nur in Begriffen des Willens sprechen. Den unmittelbaren Zugang zum Ding an sich findet jeder von uns nur in sich selbst. Es ist jedoch durchaus berechtigt, anzunehmen, dass auch andere Dinge, nicht nur unser Körper, eine eigene Seinsnatur besitzen, eine Natur des Willens. Mehr noch, die harmonische Ordnung der Welt lässt uns von einer einheitlichen Essenz sprechen, die man als Weltwillen charakterisieren kann.
Was also ist der Weltwille? Wille ist im Allgemeinen ein Streben, im menschlichen Leben meist ein Streben nach einem Ziel. Dieses Ziel existiert aktuell nicht, sondern wird nur vorgestellt. Die Vorstellung jedoch ist Sache des Intellekts. Doch der Intellekt, davon war Schopenhauer überzeugt, begleitet den Willen nicht zwingend. Er hängt von einer besonderen körperlichen Organisation ab, nämlich dem Vorhandensein eines entwickelten Nervensystems. Im Wesentlichen ist der Intellekt (der beim Menschen sowohl die Fähigkeit zur anschaulichen Vorstellung, d.h. Sinnlichkeit und Verstand, als auch die Fähigkeit zur abstrakten Vorstellung, also Vernunft, umfasst) eine besondere Erscheinungsform des Willens, nämlich der sogenannte Wille zur Erkenntnis.
Mit anderen Worten, der Wille benötigt den Intellekt nicht. Im Ganzen betrachtet kommt er ohne ihn aus und ist ein blindes, unendliches Streben. Die Essenz der Welt ist somit frei von jeglichem rationalen Anfang. Sie ist dunkel und irrational. Es verwundert daher nicht, dass die durch ihn geschaffene Welt eine Bühne endloser Schrecken und Leiden ist. Man kann sich nur wundern über die Naivität einiger Philosophen, die sie als die beste aller möglichen Welten ansahen. Tatsächlich ist sie die schlimmste.
Solche Charakterisierungen finden sich reichlich auf den Seiten von Schopenhauers Werken. Und doch zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass seine Position nicht so eindeutig ist. Zum einen ist der Weltwille keineswegs gänzlich unvernünftig. Denn schließlich ist die Vernunft eine seiner Hervorbringungen. Zum anderen muss man den Erscheinungswelt, in der ein verzweifelter Existenzkampf stattfindet, von der schönen Welt der “platonischen Ideen“ unterscheiden, die als unmittelbare Objektivationen des einheitlichen Willens erscheinen.
Die Lehre von den Ideen ist einer der wichtigsten Bestandteile von Schopenhauers Metaphysik. Er verwendet sie in der Ästhetik wie auch in der Naturphilosophie. Die Natur ist das gesetzmäßige Dasein von räumlich-zeitlichen Objekten. Diese Objekte jedoch sind weit davon entfernt, homogen zu sein. Im Gegenteil, sie überraschen uns mit ihrer Vielfalt. In der Reflexion über ihren Ursprung gelangt Schopenhauer zu der Erkenntnis, dass die Hauptprinzipien der “Vermehrung“ Raum und Zeit sind. Tatsächlich kann ein und dasselbe Ding von gleicher Qualität in anderen Teilen von Raum und Zeit unbegrenzt reproduziert werden.
In der Natur existiert jedoch auch eine qualitative Vielfalt, deren wesentliche Bestandteile die verschiedenen Arten lebender Organismen sowie die Arten anorganischer Stoffe sind. Letztere entbehren allerdings individueller Merkmale und stellen bloße Erscheinungen fundamentaler Naturkräfte dar. So kann laut Schopenhauer das natürliche Dasein als Ergebnis der Überlagerung von Raum und Zeit — als a priori gegebene Formen der Sinnlichkeit endlicher Subjekte — auf die Gesamtheit der Urkräfte der Natur gedeutet werden. Diese Urkräfte bilden eine Art hierarchische Struktur, an deren Basis die Kräfte der Anziehung und Abstoßung stehen, auf denen die chemischen Potenzen aufbauen, die wiederum das Fundament der “Lebenskraft“ bilden. Die Lebenskraft selbst ist eine Abstraktion; reale Existenz besitzen lediglich ihre konkreten Spezifikationen, die als Grundlage biologischer Arten im Tierreich oder sogar als Individuen wie bei den Menschen fungieren.
Um diese Theorie zu untermauern, musste Schopenhauer den ontologischen Status der erwähnten Naturkräfte präzisieren. Hierfür war ihm das Konzept der Ideen von Bedeutung. Jeder fundamentalen Naturkraft entspricht ein Ideal, eine “platonische Idee“, die außerhalb von Raum und Zeit im Bewusstsein eines Subjekts existiert, das Schopenhauer als das “ewige Auge der Welt“ bezeichnet.
Dieses “ewige Auge der Welt“ ist offensichtlich nicht identisch mit den endlichen Subjekten, die die Welt in Raum und Zeit wahrnehmen, wenngleich diese Subjekte, wie wir sehen werden, in gewissem Sinne die Perspektive dieses Auges einnehmen können. Doch haben beide etwas gemeinsam: Die Gegenstände ihrer Anschauung — sei es Ideen oder raum-zeitliche Phänomene — existieren nicht an sich, sondern hängen von den Subjekten ab, die ihrerseits nicht als wahrhaftige Substanzen, also selbstständige Wesen, betrachtet werden können, sondern nur ein korrelatives Dasein zu den Objekten haben. All dies, so Schopenhauer, bedeutet, dass die gesamte erfahrbare Welt nichts anderes als eine Illusion ist, Maya, ein langes Traumgeschehen. Das ewige Auge der Welt, schrieb Schopenhauer, ist “ein einziges Wesen“, das den “großen Traum“ sieht, der ihm so träumt, “dass zugleich mit ihm alle Teilnehmer des Traums ihn sehen.“
Doch wenn der Traum des “Weltgeistes“ ihm das beruhigende Bild der Welt der Ideen zeigt — als unmittelbare Objektivationen des Willens, wo Harmonie und Ordnung herrschen — so sind die langen Träume der endlichen Subjekte, die sie als reale Lebenswelt ansehen, wahrhaftig albtraumhaft. Das Leben, so meint Schopenhauer, ist eine endlose Abfolge von Leiden, die einander ablösen. Freilich leiden nur die mit Intellekt ausgestatteten Wesen. Doch die ontologischen Ursachen des Leidens durchdringen alles Seiende und wurzeln in den “Prinzipien der Individuation“ — dem Raum und der Zeit. Der Raum ermöglicht die unendliche Vervielfachung der Individuen, die je einer ewigen Idee entsprechen. Doch da es viele Ideen gibt, entsteht zwangsläufig das Problem des Mangels an Materie, das sich im Kampf aller gegen alle löst. Dieser Existenzkampf führt zur Verdrängung primitiver Formen durch höherstehende, zu einer ganzen Reihe natürlicher Revolutionen, die schließlich zum Entstehen des Lebens und zur höchsten Objektivation des Weltwillens (den man aufgrund seiner Ausrichtung als “Willen zum Leben“ bezeichnen kann) — des Menschen — führen.
Die Stärke des Menschen liegt in seinem mächtigen Intellekt. Der Intellekt dient grundsätzlich den Zielen des Willens, und je stärker er ist, desto erfolgreicher kann das Wesen, das ihn besitzt, um sein Überleben kämpfen. Andererseits ist das Maß der Intelligenz proportional zur Empfindlichkeit des Subjekts gegenüber Leiden und Not. Daraus ergibt sich, dass das lebensfähigste aller Wesen — der Mensch — in höchstem Maße die Last seines Daseins spürt.
Schopenhauer betrachtet dies nicht als Paradox, sondern als ein gesetzmäßiges Ergebnis der Verwurzelung der Welt im irrationalen Willen. Ein solcher Wille kann nur Leiden hervorbringen, und sein Wesen muss sich am stärksten in seinem höchsten Geschöpf — dem Menschen — offenbaren. Natürlich erkennt Schopenhauer, dass der Mensch als vernünftiges Wesen, das die Zukunft voraussehen kann, versuchen mag, sein Leben zu erleichtern und das Leid zu minimieren. Mittel dazu sind der Staat sowie materielle und rechtliche Kultur. Schopenhauer bestreitet nicht, dass die Entwicklung der Industrie und andere kulturelle Faktoren zur Milderung der Sitten und zur Reduzierung der Gewalt beitragen. Doch die menschliche Natur selbst verhindert sein allgemeines Glück. Denn Glück oder Genuss, so Schopenhauer, sind rein negative Begriffe. Genuss ist stets mit der Aufhebung von Leid verbunden. Anders ausgedrückt, der Mensch kann nur in dem Moment glücklich sein, in dem er von einer Last befreit wird. Bleiben ihm jedoch keine Lasten, so tritt an deren Stelle die lähmende Langeweile, das stärkste aller Qualen. Mit anderen Worten, alle Bemühungen, die Menschen glücklich zu machen, sind zum Scheitern verurteilt und verdunkeln lediglich ihren wahren Beruf.
Worin liegt jedoch dieses wahre Beruf? Im Verneinen des Willens, glaubt Schopenhauer. Der Mensch ist das einzige Wesen, das dem natürlichen Lauf der Dinge entgegenwirken, aufhören kann, das Spielzeug des Weltwillens zu sein, und diesen Willen gegen sich selbst richten kann.
Die Möglichkeit, dass der Mensch sich gegen den Willen auflehnt, ist kein Zufall. Auch wenn die Erscheinungsweisen des Willens gesetzmäßig sind, ist der Wille selbst ohne Grundlage, das heißt, frei und kann sich im Prinzip selbst verneinen. Doch bevor er sich von sich selbst abwendet, muss er sein dunkles Wesen erkennen. Der Mensch ist gewissermaßen der Spiegel des Weltwillens, und durch ihn vollzieht sich das Selbstverneinen des letzteren. Als höchste Objektivation des freien Willens ist er in der Lage, das natürliche Gesetz der Kausalität zu durchbrechen und Freiheit in einer Welt zu manifestieren, in der ihr Dasein nahezu unmöglich erscheint.
Der Verzicht auf den Willen kann verschiedene Formen annehmen. Die erste und flüchtigste davon ist das ästhetische Schauen. Ein Mensch, der sich in diesem Zustand befindet, befreit seinen Intellekt vorübergehend vom Dienst an den Interessen seines Willens, tritt aus der raum-zeitlichen Sphäre der individualisierten Existenz heraus und erblickt die Dinge in ihrer wesentlichen Form, als Ideen.
Der Wechsel zur ästhetischen, uninteressierten und dennoch mit besonderen, reinen Freuden einhergehenden Haltung kann in jedem Moment geschehen, da alle Dinge den Ideen angehören und Gegenstand ästhetischer Betrachtung sein können. Besonders geeignet hierfür sind jedoch Kunstwerke, die eigens zur Erleichterung des ästhetischen Schauens erschaffen wurden. Sie werden von genialen Menschen geschaffen, die aufgrund eines Überflusses an intellektuellen Fähigkeiten nicht nur leicht von der Betrachtung der Dinge zur Anschauung der Ideen übergehen können, sondern auch imstande sind, die Ergebnisse dieser Anschauungen in einer Form zu reproduzieren, die solches Schauen anderen Menschen erleichtert.
Da Kunstwerke verschiedene Ideen ausdrücken und die Welt der Ideen eine komplexe hierarchische Struktur aufweist, hält Schopenhauer Überlegungen zur relativen Wertigkeit der Künste für gerechtfertigt. Das grundlegende Kunstwerk ist die Architektur. Im Großen und Ganzen verfolgt sie “nur das eine Streben: einige jener Ideen bis zur vollständigen Anschaulichkeit zu bringen, die die niedrigsten Stufen der Objektivation des Willens darstellen, nämlich Schwere, Haftung, Trägheit, Härte, diese allgemeinen Eigenschaften des Steins, diese… Generalbässe der Natur, und daneben das Licht.“ Ergänzt wird die Architektur durch die Kunst der Hydraulik, die das Fließende der Materie ins Spiel bringt. Einer höheren Stufe der Objektivation des Willens — dem Pflanzenleben — entspricht die Gartenkunst sowie die Landschaftsmalerei. Eine noch höhere Stufe zeigt das malerische und skulpturale Abbild von Tieren. Doch das höchste Thema der Kunst ist der Mensch. Bei der Darstellung des Menschen muss der Künstler eine Balance zwischen der Wiedergabe der Eigenschaften seines Gattungs- und seines individuellen Charakters halten. Die Natur des Menschen wird am besten durch die Dichtkunst dargestellt. Dichtkunst ist eine vielfältige Kunst, doch das dynamischste und adäquateste Bild der menschlichen Natur vermittelt, so Schopenhauer, die Tragödie. Die vollkommenste Form der Tragödie liegt seiner Meinung nach in jener, bei der die Leiden der Menschen nicht als Ergebnis des Zufalls oder außergewöhnlicher Bosheit einzelner Individuen erscheinen, sondern als Konsequenz unumgänglicher Gesetze, wenn “keine der Seiten ausschließlich unrecht hat.“
Eine besondere Stellung in der Reihe der Künste nimmt bei Schopenhauer die Musik ein. Während andere Künste zumeist einzelne Ideen wiedergeben, ist die Musik “die unmittelbare Objektivation und das Abbild des ganzen Willens, wie die Welt selbst, wie die Ideen, deren mannigfache Erscheinung die Welt der einzelnen Dinge ausmacht.“
Ein noch radikaleres Überwinden der Welt der Individuation als im ästhetischen Schauen zeigt, laut Schopenhauer, das moralische Bewusstsein. Er betrachtet Mitleid als die wesentliche und im Grunde einzige Quelle der Moral. Mitleid ist jener Zustand, in dem der Mensch die Leiden des anderen als seine eigenen empfindet. Mitleid lässt sich metaphysisch nur unter der Annahme eines tiefen inneren Einsseins aller Menschen in der Welt des Willens erklären. Tatsächlich nehme ich, wenn ich die Leiden des anderen als meine eigenen annehme, stillschweigend an, dass ich auf wesentlicher Ebene dem anderen nicht unähnlich bin, sondern mit ihm übereinstimme. Diese Einsicht zerschlägt den Egoismus, der der Annahme der Realität individueller Unterschiede zugrunde liegt.
Schopenhauer versucht aufzuzeigen, dass das Mitleid das Fundament zweier grundlegender Tugenden ist — der Gerechtigkeit und der Menschenliebe. Die Menschenliebe bewegt das Subjekt dazu, aktiv das Leid anderer Menschen zu lindern, während die Gerechtigkeit sich als Forderung erweist, ihnen kein Leid zuzufügen, das heißt, ihnen keinen Schaden zuzufügen. Alle anderen Tugenden leiten sich aus diesen beiden ab.
Auf den ersten Blick scheint Schopenhauers Darstellung des moralischen Verhaltens und seine hohe Einschätzung eines tugendhaften Lebens schlecht mit seinen Überlegungen zur Notwendigkeit der Verneinung des Lebenswillens zu harmonieren. Der moralische Mensch erleichtert ja das Leiden anderer Menschen und strebt somit danach, sie glücklich zu machen, womit er den Lebenswillen fördert und keineswegs dessen Streben unterbindet. Schopenhauer jedoch ist der Meinung, dass gerade der moralische Mensch in vollem Umfang die Tiefe und Unausweichlichkeit der Leiden vernunftbegabter Wesen erkennen kann. Ein Egoist kann sein eigenes Wohlergehen aufbauen und, die Schrecken des Lebens anderer vergessend, einen optimistischen Standpunkt vertreten. Dem moralischen Menschen hingegen ist dies vollkommen verwehrt. Früher oder später muss er die Position des philosophischen Pessimismus einnehmen und die Notwendigkeit entschlossenerer Maßnahmen erkennen, um sich selbst und andere aus dem Kreislauf der Lebensleiden zu befreien.
Der Kern dieses radikalen Weges zeigt sich in der asketischen Praxis des Menschen, d. h. in seinem Kampf gegen den eigenen individuellen Willen durch die Einschränkung der Funktionsweise seiner Objektivation, nämlich des Körpers und seiner Organe. Die reinste Offenbarung des Willens zum Leben nennt Schopenhauer “die Wollust im Akt der Zeugung“. Daher bildet die Keuschheit den ersten Schritt auf dem Pfad der Selbstverneinung des Willens. Obwohl sich der Wille zum Leben in den Geschlechtsorganen konzentriert, ist doch der gesamte Körper seine Objektivation. Die Bekämpfung dieses Willens muss daher in einer systematischen Unterdrückung der körperlichen Neigungen bestehen. Der nächste Schritt des Askese-Weges nach der Zähmung des Sexualtriebs ist die “freiwillige und absichtliche Armut“. Im Ideal sollte sich der Asket gar zu Tode hungern. Das Verhungern ist die einzige Art des Selbstmords, die Schopenhauer gelten lässt.
Die Frage nach der Zulässigkeit des Selbstmords drängt sich angesichts seiner Lehre auf. Auf den ersten Blick könnte man annehmen, Schopenhauer würde auch andere Arten des Selbstmords befürworten. Schließlich ist der Körper korrelativ zum individuellen Willen; der einfachste Weg zur Verneinung des Willens bestünde dann im sofortigen Ende der körperlichen Existenz. Doch Schopenhauer lehnt eine solche Auffassung ab. Den “klassischen“ Selbstmord nennt er “das Meisterstück der Maya“, eine listige Täuschung des Weltwillens. Denn der Selbstmörder verzichtet nicht auf den Willen zum Leben, sondern nur auf das Leben selbst. Er liebt das Leben, doch da ihm etwas misslingt, beschließt er, damit abzuschließen. Der wahre Nihilist hingegen hasst das Leben und hat es daher nicht eilig, sich davon zu trennen. Das klingt paradox, doch Schopenhauers Lehre vom Dasein nach dem Tod kann hier Aufschluss geben.
Die Frage des Fortlebens nach dem Tod beschäftigte Schopenhauer ernsthaft. Er lehnte entschieden die Möglichkeit einer Bewahrung der sogenannten “Identität der Persönlichkeit“ nach der Zerstörung des Körpers ab, also des individuellen Ichs mitsamt seinen Erinnerungen. Diese Entschiedenheit beruhte auf seiner Auffassung, die intellektuellen Eigenschaften der Persönlichkeit seien an physiologische Prozesse im Gehirn gebunden. Die Zerstörung des Gehirns bedeutete bei diesem Ansatz die völlige Auslöschung der Persönlichkeit. Andererseits bleibt der “intelligible Charakter“ jedes Menschen (seine einzigartige Wille als Ding an sich) unvergänglich. Das heißt, dass er nach dem Zerfall des Körpers erhalten bleibt, und von außen betrachtet sieht es so aus, als würde er eine Zeitlang ohne Intellekt existieren: Der Wille zum Erkennen bleibt, doch er ist unerfüllt. Mit der Zeit erhält dieser Charakter jedoch eine neue intellektuelle Hülle.
Empirisch betrachtet erscheint die neue Persönlichkeit völlig anders als die alte. In gewissem Maße ist dies zutreffend — ein Beispiel dafür, wie die Zeit als Prinzip der Individuation wirken kann. Dennoch ist die Verbindung dieser Persönlichkeiten unzweifelhaft. Schopenhauer vermeidet jedoch den Begriff der Metempsychose, also des “Übergangs der gesamten sogenannten Seele in einen anderen Körper“, und nennt seine Theorie lieber “Palingenese“. Darunter versteht er “die Zerlegung und Neubildung des Individuums, wobei nur sein Wille bleibt, der, indem er die Gestalt eines neuen Wesens annimmt, einen neuen Intellekt erlangt“.
Nun wird auch die Frage des Selbstmords wirklich klarer. Der gewöhnliche Selbstmörder verneint das Leben, nicht aber den Willen zum Leben. Daher tritt sein intelligibler Charakter bald wieder in Erscheinung. Der Asket hingegen bekämpft systematisch den Willen zum Leben und entkommt dadurch dem Kreislauf der Wiedergeburten.
Doch was erwartet den Menschen nach der Verneinung des Willens zum Leben? Diese Frage ist zweifellos die schwierigste. Es ist nur klar, dass der Asket, obgleich sein Leben auf den ersten Blick von Leiden erfüllt ist und er sogar bewusst danach strebt, nicht in diesem Leiden aufgeht, da “derjenige, in dem die Verneinung des Willens zum Leben erwacht ist ... von einer inneren Freude und wahrhaft himmlischen Ruhe durchdrungen ist.“ Daher kann man annehmen, dass das völlige Erlöschen des Willens zum Leben ein neues, unbegreifliches Licht im intelligiblen Charakter des Menschen entzünden wird. Der Zustand, der nach der Verneinung des Willens zum Leben entsteht, könnte als “Ekstase, Erleuchtung, Verklärung, Vereinigung mit Gott“ beschrieben werden.
Allerdings sind dies keine philosophischen Charakterisierungen mehr: “Von der Philosophie ausgehend, müssen wir uns hier mit einem negativen Wissen begnügen.“ Diese Bemerkung Schopenhauers ist nicht zufällig. “Zwar habe ich am Ende meiner Philosophie auf das Gebiet des Illuminismus als bestehende Tatsache hingewiesen,“ schrieb er, “doch habe ich mich gehütet, auch nur einen Schritt darauf zuzugehen ... ich gelangte nur bis zu jenen Grenzen, bis zu denen ein objektiver, rationalistischer Weg führt.“
Der eigentliche philosophische Kern der Frage nach dem Zustand des Willens nach dessen Erlöschen besteht darin, dass man ihn als Nichts zu denken hat. Doch zeigt die Philosophie gerade die Möglichkeit, dieses Nichts nicht absolut, sondern relativ zu verstehen und den illuminierten Erfahrungen zur Charakterisierung heranzuziehen. Denn die Welt als Ding an sich ist nicht vollständig dem Willen zum Leben gleichzusetzen. Wäre dies der Fall, so würde dessen Verneinung zum reinen Nichts führen. In Wirklichkeit wird das Ding an sich nur durch das unmittelbarste Erscheinen des Willens bezeichnet. Es ist daher denkbar, dass es weitere Eigenschaften besitzt und das Erlöschen des Willens zum Leben zu deren Entdeckung führt.
Ferner deutet die Philosophie darauf hin, dass die Entdeckung dieser Eigenschaften nicht in Kategorien von Subjekt und Objekt gedacht werden kann. Falls ein illuminativer Erfahrungswert möglich ist, dann als ein solcher, in dem die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt verschwindet. Schließlich erklärt die Philosophie, dass die Selbstverneinung der individuellen Wille als Ding an sich nicht mit dem Erlöschen des Weltwillens als Ganzem identisch ist. Denn die individuelle Wille als Ding an sich ist nur ein differenzierter Akt des Weltwillens. Mit anderen Worten: Der Heilige führt sich selbst in das Nirvana, jedoch nicht die gesamte Welt. Übrigens trifft das Nirvana nicht nur Heilige. Schopenhauer würdigt auch Helden dieses Schicksals, also jene, die für das allgemeine Wohl kämpften, jedoch ohne Dank der Menschen fanden.
Diese Charakterisierung der Helden scheint von Schopenhauer gewissermaßen auf sich selbst zugeschnitten zu sein — ein Held im herkömmlichen Sinne war er vermutlich nicht, obgleich die verbreitete Meinung über seinen schwierigen Charakter eine starke Verzerrung der Wahrheit enthält. Selbst wenn er bereit gewesen wäre, sich als Held zu sehen, so hätte er sich doch niemals als Heiligen betrachtet und betonte stets, dass ein Philosoph nicht notwendig ein Heiliger sein müsse. Seine Aufgabe sei es, die Wahrheit zu offenbaren, und es könne durchaus sein, dass ihm die Kraft fehle, ihr in Gänze zu folgen.
Betrachtungen über Heiligkeit, Nirwana und die Vereinigung mit Gott lassen einen über Schopenhauers Einstellung zur Religion nachdenken. In seiner Auffassung ist Religion eine “volkstümliche Metaphysik“. Wie Kant war Schopenhauer überzeugt, dass jeder Mensch ein Bedürfnis nach Metaphysik verspüre, also nach einem Verständnis der tiefen Essenz der Welt, die jenseits des physischen Daseins liegt. Dieses Bedürfnis könne in mehr oder weniger adäquater Weise durch die Philosophie gestillt werden. Doch Philosophie ist schwierig und bleibt der Mehrheit unverständlich. Deshalb tritt an ihre Stelle ein Surrogat — die Religion. Die Ersatzfunktion der Religion zeigt sich darin, dass höchste Wahrheiten in ihr allegorisch dargestellt werden. Einerseits erleichtert dies das Verständnis, andererseits erzeugt es ein inneres Paradoxon. Religionen können ihre Dogmen nicht einfach als Allegorien bezeichnen, denn dies würde das Vertrauen in sie untergraben. Sie müssen also auf ihrer buchstäblichen Wahrheit beharren, was oft zu Absurditäten führt. So zeigt Religion “zwei Gesichter: das der Wahrheit und das des Betrugs“. Schopenhauer prophezeit daher eine Zeit, in der das Licht der Aufklärung die Menschheit von der Religion befreien wird.
Doch so weit sie der Philosophie in heuristischer Hinsicht unterlegen ist, bleibt Religion ihr dennoch parallel. Allerdings existiert keine allgemein anerkannte philosophische Lehre, ebenso wenig wie Einheitlichkeit unter den Religionen. In beiden Bereichen kann man von einem unterschiedlichen Grad der Annäherung an die Wahrheit sprechen. Die beste Religion sei für Schopenhauer der Buddhismus. Gemeinsam mit dem Christentum und dem Brahmanismus zählt er diesen zu den pessimistischen Religionen. Solche Religionen betrachten das weltliche Dasein als Übel und streben die Verneinung der Welt an. Ihnen stehen die optimistischen Religionen wie das Judentum und sein Ableger, der Islam, gegenüber. Auch das pantheistische Weltbild ist hier anzusiedeln. Der Pantheismus, so Schopenhauer, sei im Grunde widersinnig, da die Gleichsetzung Gottes mit der Welt zu einem Widerspruch führe: Die Welt ist entsetzlich, während Gott als weise angenommen wird — wie könnte er sich dann für ein solch erbärmliches Dasein entscheiden? Der Theismus hingegen, der Gott von der Welt trennt, ist zumindest konsequent. Die Entstehung theistischer Vorstellungen ist recht durchschaubar. Die Menschen fürchten sich vor Naturgewalten und suchen, sie zu beherrschen. Diese Tendenz impliziert bereits das Vorhandensein von Vernunft, und genau auf bestimmte Funktionsweisen der Vernunft lässt sich auch das erwähnte metaphysische Bedürfnis aller Menschen zurückführen. Die Menschen versehen diese unbekannten Kräfte mit anthropomorphen Eigenschaften, um sich bei den Göttern oder dem einen Gott gewisse Gnaden zu erbitten. Um solche Vorstellungen wirkungsvoll zu machen, müssen sie geordnet und durch eine Autorität gestützt werden. So können religiöse Lehren den Staat stabilisieren. Doch Schopenhauer zweifelt an ihrem Einfluss auf die Moral, meint aber, sie könnten den Menschen subjektiven Trost spenden.
Gleichwohl sind theistische Ansichten letztlich inakzeptabel. Der Polytheismus ist im Grunde keine echte Religion, da er nicht die einheitliche Essenz der Welt erkennt, während der Monotheismus auf dem Konzept der Weltschöpfung basiert, wobei der Schöpfer nach dem Vorbild des menschlichen Verstandes als vernünftiges Individuum konzipiert wird. Doch das Wesen der Welt ist weder individualisiert noch vernünftig; es ist blinder Wille. Außerdem verortet die Schöpfungslehre diesen Willen außerhalb der Welt: “Der Theismus gleicht der Aussage, dass bei einer korrekten geometrischen Konstruktion das Zentrum einer Kugel außerhalb von ihr läge.“ Die Schöpfungslehre des Theismus verträgt sich auch schlecht mit der Lehre von der Ewigkeit der intelligiblen Charaktere der Menschen — was entstanden ist, muss früher oder später vergehen — und steht zudem im Widerspruch zur absoluten Freiheit des Menschen, die dessen volle Autonomie voraussetzt.
Der Wille zum Leben als das “An-sich“ der Welt kann nicht im theistischen Sinne als Gott bezeichnet werden, da dieser als gütig gedacht wird, während der Wille das Leiden hervorbringt. Man kann auch die beruhigte Willenslosigkeit nicht Gott nennen (es sei denn, im übertragenen Sinne), denn “Gott wäre in diesem Fall jemand, der die Welt nicht will, während im Begriff ‚Gott’ die Vorstellung liegt, dass er das Dasein der Welt will“. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Schopenhauer in seiner Ablehnung des Theismus den Buddhismus als beste Religion ansieht — eine Religion ohne Gott, jedoch mit einer klaren Gegenüberstellung von Samsara, der leidvollen Welt, und Nirwana, einem Zustand frei von Wünschen, die das Leiden verursachen.
Doch da Schopenhauer eine dynamische Sicht auf das Verhältnis von aktivem und beruhigtem Willen einnimmt, da er nämlich annimmt, dass Selbstverneinung des Willens sein Selbstbehauptung voraussetzt, dass Nirwana nicht ursprünglich, sondern durch den Willen erreicht werden muss, und die Bedingung für seine Erlangung die Entstehung einer Welt der Individualisierung und des Leidens ist, war er dennoch geneigt, quasitheologische Terminologie zu verwenden und suchte insbesondere eine Verbindung zum Christentum, das ihm durch die Idee der Erlösung nahe stand. Er sagte sogar, seine Lehre könne als die eigentliche christliche Philosophie bezeichnet werden, und unternahm den Versuch, die Hauptthesen seiner Doktrin in die Sprache der christlichen Dogmatik zu übersetzen. Gemäß seiner Interpretation ist der Wille zum Leben Gottvater, die “entschiedene Verneinung des Willens zum Leben“ der Heilige Geist. Die Identität von Lebenswillen und dessen Verneinung offenbart Gottsohn, den Gottmenschen Christus.
Angesichts Schopenhauers Auffassung, dass alle religiösen Aussagen allegorisch sind, lassen sich die erwähnten Formeln als Aussagen über die Einbindung des Menschen in den Prozess des Rückkehrens der Weltessenz zu sich selbst verstehen, als Teil eines quasi-göttlichen Selbst-Erkennungsprozesses. Offensichtliche Analogien zu dieser Philosophie finden sich in den tiefen Intuitionen Schellings und Hegels, bei dem der absolute Geist ebenfalls den Menschen für sein Selbstbewusstsein benötigt. Zwar glaubte Hegel, dass sich dieses Selbstbewusstsein am besten im Denken vollzieht, Schopenhauer jedoch schreibt diese Rolle dem Handeln zu. Ein weiterer Unterschied liegt darin, dass bei Hegel das ursprüngliche Prinzip die absolute Idee darstellt, während es bei Schopenhauer der “dunkle Wille“ ist. Diese Differenz mag jedoch weniger entscheidend sein, da trotz der Dunkelheit dieses Willens in seinem Wirken gewisse übervernünftige Intentionen, eine Vorsehung, erkennbar sind, die ihn zur Selbstbefreiung führt.
Der wesentlichere Unterschied zwischen Schopenhauers und Hegels Zugang zur Religion und insbesondere zum Christentum besteht darin, dass letzterer viel schonender mit der Dogmatik umging und versuchte, die rationale Seite der christlichen Theologie philosophisch zu unterstützen, insbesondere Kants gefährliche Angriffe auf die Gottesbeweise abzuwehren. Schopenhauer hingegen handelte ganz anders. Er meinte, “nirgendwo ist es so notwendig, Kern und Schale zu unterscheiden, wie im Christentum“, und fügte hinzu: “Gerade weil ich den Kern liebe, zerschlage ich manchmal die Schale.“ Die “Schale“ des Christentums bilden vor allem die Elemente des Judentums, jener optimistischen, diesseitigen Religion des Alten Testaments. Die Verbindung des Alten Testaments mit dem Neuen wurde nur dadurch ermöglicht, dass im Alten Testament doch pessimistische Elemente vorkommen, die in der Geschichte vom Sündenfall ausgedrückt sind. Neben dem Eklektizismus weist das Christentum noch weitere Mängel auf. Es legt zu viel Gewicht auf konkrete historische Ereignisse und ignoriert das wesentliche Einheitsprinzip aller Lebewesen, wodurch es die grausame Behandlung von Tieren begünstigt — ein Umstand, der Schopenhauer besonders entrüstete.
Was die rationale oder “natürliche“ Theologie angeht, so existiert sie für Schopenhauer schlichtweg nicht. Ihr Fundament müssten die Gottesbeweise bilden, doch alle sind sie unzulänglich. Der ontologische Beweis, der das Gedachte mit dem objektiv Reellen gleichsetzt, ist nichts als ein Sophismus; der kosmologische Beweis, der vom Wirken der Welt zu Gott als Erstursache aufsteigt, ist fehlerhaft, da das Gesetz der Kausalität nur innerhalb der Welt gilt; und der physiko-teleologische Beweis, der von der Zweckmäßigkeit der Weltordnung auf einen vernünftigen Architekten des Universums schließt, ist unzureichend, da die Zweckmäßigkeit auch ohne das Konzept eines vernünftigen Wesens durch die Einheit des Weltwillens erklärt werden kann. Vergleicht man diese Überlegungen mit anderen Thesen Schopenhauers, so zeigt sich jedoch, dass ein transformierter physiko-teleologischer Beweis in seiner Philosophie dennoch eine wichtige Rolle spielen musste. Die Zweckmäßigkeit der Natur, so Schopenhauer, erklärt sich durch die Einheit des Willens zum Leben. Aber woher wissen wir von dieser Einheit? Denn Schopenhauer selbst sagte, er wisse nicht, wie tief die “Wurzeln der Individuation“ in das Ding an sich reichen. Ein Argument für das Vorhandensein eines höheren Zentrums für das Koordinieren der individuellen Willensakte könnte jedoch gerade der Hinweis auf die Zweckmäßigkeit der Welt sein, die die Vermutung eines solchen Zentrums plausibel erscheinen lässt.
Im Allgemeinen lässt sich Schopenhauers Haltung gegenüber Religion und Theologie nicht eindeutig beschreiben. Fest steht jedoch: Seine Philosophie ist von der Religion emanzipiert. Er betrachtete Bruno und Spinoza in dieser Hinsicht als seine Vorläufer. Doch nur bei ihm offenbarte sich eine solche Einstellung in voller Reinheit. In seiner Philosophie gibt es weder eine Abhängigkeit von Religion noch einen Aufstand gegen sie. Selbst wenn er sich an Religionen wendet, bleibt das Bündnis stets ein freies. Schopenhauer zeigte, wie strahlend eine Philosophie sein kann, die sich nicht durch religiöse Dogmen fesseln lässt. Darin liegt die gewaltige Bedeutung seines Systems, auch wenn sein Einfluss natürlich nicht darauf beschränkt ist.
Seit dem späten 19. Jahrhundert und bis heute bleibt Schopenhauer einer der meistgelesenen Philosophen. Sein Einfluss reicht weit über die Philosophie hinaus und beschränkt sich nicht nur auf rein philosophische Konzepte. Seine Theorie der physiologischen Farben nahm einen festen Platz in der Geschichte der Naturwissenschaften ein. Die Logik bereicherte Schopenhauer mit einer detaillierten Klassifikation dialektischer Täuschungen. Auch trug er zur Geschichte der Philosophie bei, vor allem zur Kantforschung, indem er auf die erheblichen Unterschiede zwischen der ersten und der zweiten Ausgabe von Kants “Kritik der reinen Vernunft“ hinwies. Doch zweifellos rief seine Metaphysik das größte Echo hervor.
Schon zu seinen Lebzeiten hatte Schopenhauer treue Anhänger, die er scherzhaft “Evangelisten“ und “Apostel“ nannte. Nach dem Tod des Philosophen brachte sein Schüler J. Frauenstädt eine Werkausgabe heraus und veröffentlichte Fragmente aus Schopenhauers Nachlass. Obwohl diese Editionen wissenschaftlich gesehen noch ziemlich unvollkommen waren, weckten die neuen Texte das Interesse an Schopenhauers Ideen nur noch stärker, auch in Russland, wo etwa A. Fet, der sein Hauptwerk ins Russische übersetzte, und L. N. Tolstoi, der Schopenhauer zeitweise als “genialsten aller Menschen“ betrachtete, auf ihn aufmerksam wurden. Unter dem breiten Publikum erfreuten sich (und erfreuen sich noch immer) die “Aphorismen zur Lebensweisheit“ und “Metaphysik der Geschlechtsliebe“ (ein Kapitel des zweiten Bandes von “Die Welt als Wille und Vorstellung“) großer Beliebtheit. Professionelle Philosophen hingegen interessierten sich vor allem für die grundlegenden Prinzipien von Schopenhauers Lehre. Viele meinten jedoch, dass diese modifiziert werden müssten. So glaubte etwa E. Hartmann, der Autor der “Philosophie des Unbewussten“ (1869), das Urprinzip des Seienden müsse zugleich Wille und Idee sein. Auch Schopenhauers Konzept der Verneinung des Willens wurde von Hartmann umgedeutet: Diese könne nur wirksam werden, wenn die erleuchtete Menschheit sich kollektiv zum Selbstmord entschließe.