Ein Leitfaden zur Philosophie: Ein Blick auf Schlüsselkonzepte und Ideen - 2024
Westlicher Marxismus
Marxistische Philosophie: Grundideen und Evolution
Geschichte der westlichen Philosophie
Die Entwicklung des westlichen Marxismus
“Westlicher Marxismus“ (oft gleichgesetzt mit “Neomarxismus“) bezeichnet jene Richtung des Marxismus, die sich in einer Vielzahl von Aspekten dem “östlichen Marxismus“ oder Marxismus-Leninismus entgegenstellte. Während sie sich sowohl gegen den Kapitalismus als auch gegen das sowjetische Modell des Sozialismus wandte, standen die westlichen Marxisten in der Regel außerhalb der kommunistischen und Arbeiterbewegung und entwickelten die marxistische Theorie, insbesondere die Philosophie, auf eigene Faust und Gefahr.
Die Wurzeln des westlichen Marxismus liegen bei Antonio Gramsci (1891—1937), György Lukács (1885—1971) und Karl Korsch (1886—1961). Diese Theoretiker lehnten die philosophischen Thesen des II. Internationalen ab und distanzierten sich von der Interpretation des Marxismus, die im Sowjetstaat unter dem Namen Marxismus-Leninismus entstand. Der philosophische Streit (der auch politischer Natur war) bestand darin, dass sie sich gegen die objektivistische, naturalistische Auslegung der marxistischen Gesellschaftslehre wandten, also gegen die Vorstellung, dass in der Gesellschaft alles von objektiven, naturgesetzlich wirkenden ökonomischen Gesetzen abhängt, die menschliches Handeln und Denken determinieren.
Im Gegensatz zum ökonomischen Determinismus versuchten Lukács und Korsch, die Rolle des historischen Subjekts zu begründen (dem sie, wie Marx und Engels, das Proletariat zuschrieben). Sie entwickelten den Marxismus als eine Philosophie des aktiven praktischen Handelns, das den Faktor des Bewusstseins und Denkens organisch mit einbezieht. Der Ansatz, die Gesellschaft als Wechselwirkung zwischen den grundlegenden Gegensätzen — dem Subjektiven und Objektiven, dem Menschlichen und dem Dinglichen — zu begreifen, stellt für Lukács die wahre Dialektik dar, die sowohl eine Denkweise über die Welt als auch einen Weg zur Transformation dieser Welt ist. Eine solche Dialektik existiert nicht in der Natur, weshalb Lukács die Dialektik der Natur bei Engels ablehnte, zumal die Gleichsetzung der Gesellschaft mit der Natur zu einem objektivistischen Determinismus führt, dem Lukács entgegenwirken wollte. Gramsci kritisierte das System der sowjetischen Philosophie und trat gegen die Trennung von dialektischem und historischem Materialismus auf. Aus seiner Sicht sollte Marxistische Philosophie als sozial und historisch verstanden werden, da sie keine universellen, absoluten Wahrheiten beansprucht, sondern sich als Teil der Gesellschaft und ihrer ideologischen Überbauten in einem bestimmten historischen Stadium begreift. Diese Auffassung der Philosophie nannte Gramsci “Historismus“ oder “Identität von Philosophie und Geschichte“. Die Entwicklung der Gesellschaft kann nicht nur durch die Linse von Wirtschaft, Politik oder Ideologie verstanden werden; erst durch das Zusammenspiel dieser Faktoren lässt sich der gesellschaftliche Wandel erklären und aktiv mitgestalten.
Eine zentrale Rolle in der Entstehung des westlichen Marxismus spielte die Frankfurter Schule, zu deren Vertretern Max Horkheimer (1895—1973), Theodor W. Adorno (1903—1969), Herbert Marcuse (1898—1979) und Erich Fromm (1900—1980) in den Anfangsjahren ihres Schaffens gehörten. Diese Schule, die in den 1920er Jahren rund um das Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main entstand, erlangte in den 60er und 70er Jahren große Popularität. Die Frankfurter Schule stellte sich die Frage, warum die Menschheit, statt zu einem wahrhaft menschlichen Zustand zu gelangen, in den Abgrund neuen Barbarei — Krieg, Faschismus, die Macht des Massenwesens im spätindustriellen Kapitalismus — abgleitet. Warum wurde das dem Aufklärungszeitalter eigene Streben nach Vernunft, Freiheit und Menschlichkeit im 20. Jahrhundert zum Gegenteil?
Auf der Suche nach einer Antwort auf diese Frage griffen Horkheimer und Adorno sowohl auf marxistische als auch nicht-marxistische Konzepte zurück (insbesondere aus der Psychoanalyse). Im Gegensatz zum klassischen Marxismus verlagerten sie das Zentrum ihrer Kritik nicht mehr ausschließlich auf die Ausbeutungsfrage, sondern auf die Frage der Herrschaft, die sie sehr weit fassten. Ihr Hauptanliegen war, dass das philosophische und politische Projekt der Aufklärung — der Aufbau einer Gesellschaft auf Grundlage der Ideale von Vernunft — als bourgeoises Projekt von Anfang an mit einem fatalen Drang nach Herrschaft behaftet war — der Herrschaft über die Natur und über andere Menschen. Diese beiden Arten der Herrschaft seien miteinander verknüpft und hätten, indem sie den Vernunftbegriff für sich in Anspruch nahmen, ihn in Unvernunft verwandelt und die Freiheit in Unterdrückung. Letztlich führten sie zu einer antihumanistischen Ideologie und Praxis des Faschismus, der versuchte, eine absolute, totalitäre Herrschaft zu errichten.
Die “Kritische Theorie“ richtet sich gegen den Positivismus und Technokratie und bewertet diese mit Blick auf ihre soziale Funktion, die darin besteht, ein Gesellschaftsmodell zu stützen, in dem der entfremdete Mensch den Dingen und den dinglichen Beziehungen unterworfen ist. Diese Theorie lehnt die vereinfachte Vorstellung von sozialer Realität als “natürliche“ Gegebenheit ab und zeigt deren abgeleiteten Charakter und die Diskrepanz dieser Weltsicht mit den zugrunde liegenden Idealen von Vernunft, Freiheit und Bewusstsein des Ziels.
Aus philosophischer Sicht interessant ist die von Adorno entwickelte Konzeption der “negativen Dialektik“, die gegen die totalitären Tendenzen in der Gesellschaft gewandt ist. Adorno stellt diese Konzeption der gesamten bisherigen Philosophie entgegen, da er der Ansicht ist, dass das Streben nach dem Absoluten, dem Identischen, der Systematik gerade solchen Tendenzen Vorschub leistet. Für ihn ist auch die Hegelsche Dialektik mit ihrer Triade von These, Antithese und Synthese nicht akzeptabel, da der Synthese — als Negation der Negation — lediglich eine feinere Form der Rechtfertigung des Bestehenden innewohnt. Philosophie müsse Kritik sein, d.h. den Geist des ewigen Verwerfens verkörpern. Im Ideal ist Philosophie ein anti-autoritär und anti-totalitär ausgerichtetes Wissen, das jede Tendenz ablehnt, sich in einem System zu verschließen, sich in der Dinglichkeit zu verkörpern und zu einem Instrument der Manipulation und der Herrschaft des Menschen über den Menschen zu werden. Adornos “negative Dialektik“ ist eine Warnung vor den universellen, totalitären Ansprüchen jeglicher schematischen Weltanschauungen und Technologien.
Diskussionen im Neomarxismus
Der Neomarxismus, der nach dem Zweiten Weltkrieg endgültig Gestalt annahm, wurde zu einer philosophischen Antwort auf die Probleme, die sich für den Marxismus im Zeitraum der Entstalinisierung stellten — die Probleme des Menschen und der humanistischen Erneuerung des Marxismus sowie die Frage nach der Wirksamkeit seiner politischen Theorie. Diese Strömung des Marxismus fand sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einer Vielzahl von unterschiedlichen Konzepten wieder. Innerhalb des westlichen Marxismus entwickelten sich zwei Strömungen, die sich in wesentlichen Punkten voneinander unterschieden. Die eine richtete ihren Fokus auf den Menschen als Subjekt und Objekt, die andere auf die Gesellschaft und eine konkret-wissenschaftliche Untersuchung ihrer Struktur und Entwicklung. Die erste strebte an, den historischen Materialismus als Philosophie zu entwickeln, die zweite als konkrete Wissenschaft. Diese Divergenz war keineswegs zufällig. Bei Karl Marx selbst dominierte zunächst der philosophische Ansatz, gefolgt von dem konkret-wissenschaftlichen Ansatz zur Analyse des Menschen und der Gesellschaft, sodass die eine Richtung häufig auf den “frühen“ Marx verweist, während die andere den “späten“ Marx bevorzugt.
In der marxistisch-leninistischen Philosophie der 60er Jahre existierten ebenfalls zwei ähnliche Richtungen, die miteinander stritten. Interessanterweise bildeten sich auch in der nicht-marxistischen Philosophie des 20. Jahrhunderts zwei verschiedene Ausrichtungen heraus: die eine auf den Menschen (philosophische Anthropologie, Personalismus, Existentialismus u.a.) und die andere auf die Wissenschaft (Neopositivismus, analytische Philosophie, Strukturalismus u.a.), wobei die Beziehungen zwischen diesen beiden keineswegs freundschaftlich waren. Doch abgesehen von den allgemeinen philosophischen Divergenzen über das Thema und die Methode der Philosophie gab es auch in beiden marxistischen Richtungen — sowohl bei den westlichen als auch bei den sowjetischen Marxisten — weitere Gründe, ihre Philosophie in zwei unterschiedlichen Richtungen zu entwickeln.
In der Nachkriegszeit standen vor dem Marxismus zwei Hauptprobleme. Das erste war das Problem des menschlichen Daseins und der Notwendigkeit einer humanistischen Erneuerung des Marxismus, das sich besonders nach dem XX. Parteitag der KPdSU manifestierte; das zweite war das Problem der verringerten Wirksamkeit des Marxismus als wissenschaftliche Theorie, die zunehmend als dogmatische Ideologie wahrgenommen wurde. Westliche Marxisten reagierten, im Gegensatz zu ihren sowjetischen Kollegen, die durch offizielle Dogmen gebunden waren, schärfer auf diese Probleme.
Die erste Strömung, die humanistische Richtung, stellte die menschliche Problematik in den Mittelpunkt der Diskussion und nutzte dabei philosophische Kategorien wie das Wesen und das Dasein des Menschen, Subjekt und Objekt, Praxis, Entfremdung und Überwindung der Entfremdung u.a., um die Gesellschaft als feindlich gegenüber dem Menschen, unmenschlich und perspektivlos zu kritisieren. Dabei entwickelten einige Philosophen, die auf dem Marxismus aufbauten, ihre eigenen einzigartigen Konzepte — so zum Beispiel die Vertreter der Frankfurter Schule sowie Ernst Bloch, der die “Philosophie der Hoffnung“ entwickelte. Andere versuchten, bestimmte Aspekte des Marxismus mit Ideen nicht-marxistischer Strömungen zu synthetisieren — wie die Anhänger des Freudomarxismus (Wilhelm Reich, teilweise Herbert Marcuse und Erich Fromm), des existenzialistischen Marxismus (der späte Jean-Paul Sartre, Henri Lefebvre, Karl Kossik, John Lewis u.a.), oder des phänomenologischen Marxismus (Edmund Husserl und seine Nachfolger). Eine dritte Gruppe setzte die Ideen großer Marxisten wie Georg Lukács und Antonio Gramsci fort — dazu gehörten die Vertreter der Budapester Schule (Ágnes Heller, Ferenc Fehér, Dénes M. Markos, Mihály Vajda) und des italienischen marxistischen Historismus (Nicola Badaloni, Luciano Gruppi, Enzo Sereni u.a.); schließlich bildete sich die Gruppe “Praxis“ um die gleichnamige jugoslawische Zeitschrift (Gojko Petrovic, Petar Vranicki, Milan Markovic, Sava Stojanovic u.a.), die Ideen des frühen Marx, Lukács, Gramsci und Sartre aufgriff und auf Grundlage des Begriffs der Praxis originelle Theorien entwickelte.
Die zweite Strömung, der wissenschaftlich-technizistische Ansatz, hatte sich das Ziel gesetzt, den Marxismus wissenschaftlicher zu machen, und wurde in drei Richtungen vertreten: der “Methodologismus“ von G. della Volpe und seinen Schülern in Italien, der “strukturalistische Marxismus“ von Louis Althusser und seinen Anhängern in Frankreich und anderen Ländern sowie der analytische Marxismus (L. J. Cohen, J. Römer, J. Elster, E. O. Wright u.a.), der sich kürzlich in Großbritannien und den USA verbreitet hat und versucht, die marxistische Theorie mit den rigorosen Methoden der modernen Wissenschaft (Modellierung, Theorie der rationalen Wahl, Spieltheorie, modale Logik u.a.) zu überarbeiten.
Die Konzeptualisierung von Louis Althusser (1918—1990) zieht viele Forscher an. Sie gilt als eine der tiefgründigsten Interpretationen der marxistischen Philosophie aus der Perspektive des Scientismus. In den frühen 60er Jahren trat Althusser gegen die weit verbreitete Hinwendung der Marxisten zur humanistischen Problematik ein, die mit der Rückkehr zu den Ideen des “frühen“ Marx verbunden war. Er schlug vor, den Marxismus von den Überbleibseln des Hegelschen und Feuerbachianischen Denkens sowie von der Ideologie (die seiner Ansicht nach auch der Humanismus ist) zu befreien und den historischen Materialismus nicht als Philosophie, sondern als konkrete Wissenschaft weiterzuentwickeln. Aus Althussers Sicht sind die “Ökonomisch-philosophischen Manuskripte“ von Marx von 1844 keineswegs als Marxismus zu verstehen. Vielmehr benötigte Marx einen “Bruch“ mit der darin enthaltenen humanistischen Konzeption, um den historischen Materialismus zu schaffen, oder genauer gesagt, eine Wissenschaft der Geschichte mit völlig neuen Begriffen (Produktivkräfte, Produktionsverhältnisse, Basis, Überbau usw.). Der Humanismus ist heute eine Form der Ideologie, die ihren Wert hat, aber nicht den Anspruch auf den Status einer strengen Theorie erheben kann, ebenso wie Moral, Kunst und Ähnliches. Wie jede Ideologie ist der Humanismus Ausdruck von Interessen, Wünschen und Hoffnungen, aber nicht mehr als das. Übrigens formt, laut Althusser, genau diese Ideologie den Menschen als Subjekt, der sich als frei erachtet, ohne tatsächlich so zu sein.
Laut Althusser ist Geschichte ein “Prozess ohne Subjekt und Ziel“. Sie wird von dialektischen Gesetzmäßigkeiten bestimmt, doch unterscheiden sich diese grundlegend von denen Hegels, dessen Dialektik teleologisch ist. Die marxistische Dialektik, so Althusser, unterscheidet sich von der hegelianischen bereits in ihrer Struktur, insbesondere im Verständnis von Ganzheit und ihren inneren Verhältnissen. Die Gesellschaft ist von Anfang an ein komplexes, “strukturiertes“ Ganzes, das nur durch die Wechselwirkung aller seiner Bereiche fortschreiten kann. Die Wirtschaft, die letztlich alle anderen Bereiche der Gesellschaft determiniert (bestimmt), wird selbst von ihnen “überdeterminiert“. Nur unter der Bedingung einer solchen “Überdetermination“, vor allem durch Politik und Ideologie, kann das grundlegende ökonomische Widerspruch gelöst werden. Ein einziges, wie auch immer bedeutendes, Widerspruch kann nicht die treibende Kraft des Entwicklungsprozesses sein. Er reproduziert sich lediglich selbst. Die treibende Kraft ist ein Komplex von Widersprüchen mit sich verändernden inneren Verbindungen (Überlagerung, Verdichtung, Verschiebung usw.).
Althusser glaubt, dass die Bevorzugung der Empirie der modernen Wissenschaft unheilbaren Schaden zufügt. Er stellte die Konzeption wissenschaftlicher Erkenntnis als synthetische Verarbeitung früheren Wissens vor, als Übergang von “schlechten“ Abstraktionen zu “guten“ (in dieser Hinsicht stützte er sich auf französische Historiker der Wissenschaft und Epistemologen wie A. Koyré und G. Bachelard). Im Einklang mit dieser Vorstellung deutete Althusser in seiner zweibändigen Arbeit Das Kapital lesen (1965) die wissenschaftliche Revolution von Marx als Übergang von der einseitigen empirischen Problemstellung des vormodernen Wissens zu einer mehrstufigen, strukturierten Problematik der wahren Wissenschaft. Er schlug eine “antihegelianische“ Interpretation von Marxs Kapital vor, wobei er auf seine Weise die Frage nach der Rolle der Philosophie im Marxismus und der wissenschaftlichen Erkenntnis im Allgemeinen löste.
Neben den beiden Hauptströmungen im westlichen Marxismus lassen sich bedeutende Forscher zu den Problemen der “Dritten Welt“ (Entwicklungsländer) und des Kapitalismus als Weltordnung (wie S. Amin, A. G. Frank, I. Wallerstein) sowie Vertreter der kritischen Soziologie, Befürworter des marxistischen Feminismus, Anhänger eines marxistisch orientierten Ökologismus und andere nennen.
Die marxistische Philosophie hat sich in ihrer Entwicklung gewandelt. Doch im 20. Jahrhundert gingen ihre Aufgaben über die philosophische Deutung der weltgeschichtlichen Mission des Proletariats und der Unvermeidlichkeit und Notwendigkeit einer sozialistischen und kommunistischen Zukunft hinaus. Heute wird sie nicht mehr mit einem Produkt des offiziellen philosophischen Schaffens politischer Parteien und Bewegungen gleichgesetzt, sondern stellt das Ergebnis einer freien theoretischen und intellektuellen Suche von Philosophen dar, die die zentralen philosophischen Argumente des Marxismus teilen. Zu diesen gehören unter anderem die Objektivität und Gesetzmäßigkeit der Entwicklung der Wirklichkeit, die Möglichkeit ihres rationalen Erkennens und der Nutzung im Prozess des bewussten Handelns, der dialektische Charakter menschlichen Handelns und Erkennens, die Idee der bestimmenden Rolle der Praxis in der historischen Entwicklung, die kritische Orientierung des Denkens sowie die Vorstellung von der sozialen Rolle und den Funktionen der Philosophie.