Ein Leitfaden zur Philosophie: Ein Blick auf Schlüsselkonzepte und Ideen - 2024
Allgemeine Charakteristik und Hauptvertreter der Philosophie des Lebens
Philosophie des Lebens und Existentialismus
Die westliche Philosophie des 20. Jahrhunderts
Die Philosophie des Lebens ist eine Richtung, die alles Existierende als eine Form der Manifestation des Lebens begreift, einer ursprünglichen Realität, die weder dem Geist noch der Materie gleich ist und nur intuitiv erfasst werden kann. Zu den bedeutendsten Vertretern der Philosophie des Lebens zählen Friedrich Nietzsche (1844—1900), Wilhelm Dilthey (1833—1911), Henri Bergson (1859—1941), Georg Simmel (1858—1918), Oswald Spengler (1880—1936), Ludwig Klages (1872—1956). Diese Strömung umfasst Denker mit den unterschiedlichsten Orientierungen — sowohl in theoretischer als auch in weltanschaulicher Hinsicht.
Die Philosophie des Lebens entstand in den 1860er und 1870er Jahren des 19. Jahrhunderts und erreichte ihren größten Einfluss in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Danach nahm ihre Bedeutung ab, doch einige ihrer Prinzipien wurden von Strömungen wie dem Existentialismus, dem Personalismus und anderen übernommen. Der Philosophie des Lebens stehen in gewisser Weise Strömungen nahe, wie zum einen der Neuhumanismus, der bestrebt ist, die Wissenschaften über den Geist als ein lebendiges und kreatives Prinzip zu etablieren, im Gegensatz zu den Naturwissenschaften (so kann auch Dilthey als Vertreter des Neuhumanismus bezeichnet werden); zum anderen der Pragmatismus, der Wahrheit als Nützlichkeit für das Leben versteht; und schließlich die Phänomenologie, die eine unmittelbare Betrachtung von Phänomenen als Ganzheiten fordert, im Gegensatz zu vermittelndem Denken, das das Ganze aus seinen Teilen konstruiert.
Die ideellen Vorläufer der Philosophie des Lebens sind in erster Linie die deutschen Romantiker, mit denen viele Vertreter dieser Richtung eine antiburgeoise Haltung, eine Sehnsucht nach einer starken, unzerstückelten Individualität und das Streben nach Einheit mit der Natur teilen. Wie der Romantismus wendet sich die Philosophie des Lebens gegen eine mechanistische und vernünftige Weltanschauung und neigt zu einem organischen Weltbild. Dies zeigt sich nicht nur in ihrem Anspruch, die Einheit des Organismus unmittelbar zu erfassen (ein Vorbild für alle deutschen Philosophen des Lebens ist hier Johann Wolfgang von Goethe), sondern auch in der Sehnsucht nach einer “Rückkehr zur Natur“ als organischem Universum, was eine Tendenz zum Pantheismus hervorruft. Schließlich wird im Rahmen der Philosophie des Lebens das Interesse an historischen Untersuchungen solcher “lebendigen Ganzheiten“ wie Mythos, Religion, Kunst und Sprache wiederbelebt, ein Merkmal, das besonders in der Jenaer Romantik und der romantischen Philologie mit ihrer Lehre der Hermeneutik zu finden ist.
Das zentrale Konzept der Philosophie des Lebens — “Leben“ — ist vage und mehrdeutig; je nach seiner Auslegung können unterschiedliche Varianten dieser Strömung unterschieden werden. Leben wird sowohl biologisch als lebender Organismus, psychologisch als Fluss von Erlebnissen, kulturell-historisch als “lebendiger Geist“ und metaphysisch als Ursprung des gesamten Kosmos verstanden. Obwohl bei jedem Vertreter dieser Strömung der Begriff des Lebens in nahezu allen diesen Bedeutungen verwendet wird, ist in der Regel entweder die biologische, psychologische oder kulturell-historische Auslegung des Lebens vorherrschend.
Das biologisch-naturwissenschaftliche Verständnis des Lebens tritt besonders deutlich bei Friedrich Nietzsche hervor. Hier erscheint es als das Sein des lebenden Organismus im Gegensatz zum Mechanismus, als “Natürliches“ im Gegensatz zum “Künstlichen“, als Eigenständiges im Gegensatz zum Konzipierten, als Ursprüngliches im Gegensatz zum Abgeleiteten. Diese Richtung, die neben Nietzsche auch durch Namen wie Ludwig Klages, Thomas Lessing, den Anatomen Ludwig Bolk, den Paläographen und Geologen Ernst Dacke, den Ethnologen Leo Frobenius und andere vertreten wird, ist gekennzeichnet durch Irrationalismus und eine scharfe Opposition gegen Geist und Vernunft: Das rationale Prinzip wird hier als eine spezielle Krankheit des menschlichen Wesens betrachtet. Viele Vertreter dieser Strömung neigen zu einer Verehrung des Primitiven und der Kraftkulten. Es ist ihnen nicht fremd, jede Idee auf die “Interessen“ und “Instinkte“ des Individuums oder einer sozialen Gruppe zurückzuführen. Gut und Böse, Wahrheit und Lüge werden als “schöne Illusionen“ erklärt; im pragmatischen Geist gilt als gut und wahr, was das Leben stärkt, als böse und falsch, was es schwächt. Für diese Variante der Philosophie des Lebens ist eine Substitution des personalen Anfangs durch das individuelle Prinzip charakteristisch, wobei der Einzelne als Teil des Kollektivs (der Totalität) betrachtet wird.
Eine andere Variante der Philosophie des Lebens ist mit der kosmologisch-metaphysischen Auslegung des Begriffs “Leben“ verbunden; der herausragendste Philosoph in diesem Bereich ist Henri Bergson. Er versteht Leben als kosmische Energie, vitale Kraft, als “Lebensimpuls“ (élan vital), dessen Wesen in der kontinuierlichen Selbstwiederholung und der Schöpfung neuer Formen besteht. Die biologische Form des Lebens wird lediglich als eine Erscheinung des Lebens neben den seelischen und geistigen Manifestationen verstanden. “Leben gehört in Wirklichkeit zur psychologischen Ordnung, und das Wesen des Psychischen umfasst die vage Vielzahl sich gegenseitig durchdringender Glieder... Aber das, was der psychologischen Natur angehört, kann nicht genau in den Raum angewendet werden, noch vollständig in die Grenzen der Vernunft eintreten.“ Da die Substanz des psychischen Lebens laut Bergson die Zeit als reine “Dauer“ (durée), Flüssigkeit, Wandelbarkeit ist, kann sie nicht durch Begriffe, mittels rationaler Konstruktion erfasst werden, sondern wird unmittelbar — intuitiv — erfahren. Das wahre, also lebensbejahende, Zeitverständnis sieht Bergson nicht als bloße Abfolge von Momenten, wie die Reihenfolge von Punkten auf einem räumlichen Segment, sondern als die wechselseitige Durchdringung aller Elemente der Dauer, deren innere Verbundenheit sich von der physischen, räumlichen Nachbarschaft unterscheidet. In Bergsons Konzept verbinden sich die metaphysische Auslegung des Lebens mit seiner psychologischen Interpretation: Sowohl die Ontologie (Lehre vom Sein) als auch die Erkenntnistheorie des französischen Philosophen sind von einem psychologischen Blickwinkel durchzogen.
Sowohl das naturalistische als auch das metaphysische Verständnis des Lebens zeichnet sich in der Regel durch einen außergeschichtlichen Ansatz aus. So, gemäß Nietzsche, bleibt die Essenz des Lebens immer gleich, und da das Leben die Essenz des Seins ist, ist dieses letztlich etwas, das immer mit sich selbst gleich ist. Er spricht hierbei vom “ewigen Wiederkehr“. Für Nietzsche ist das Verstreichen des Lebens in der Zeit nur eine äußere Form des Lebens, die keinerlei Bezug zum eigentlichen Inhalt des Lebens hat.
Anders interpretieren Denker, die eine historische Variante der Lebensphilosophie entwickeln — eine Philosophie der Kultur, wie sie etwa von W. Dilthey, G. Simmel, O. Spengler und anderen vertreten wird. Wie auch Bergson, der das Leben “von innen“ interpretiert, gehen diese Philosophen von einer unmittelbaren inneren Erfahrung aus, die für sie jedoch nicht psychisch-seelischer, sondern kulturell-historischer Natur ist. Im Gegensatz zu Nietzsche, und zum Teil auch Bergson, die das Augenmerk auf das Lebensprinzip als ewigen Anfang des Seins richten, fokussieren sie sich auf die individuellen Formen der Lebensverwirklichung, auf ihre einzigartigen, unverwechselbaren historischen Erscheinungsbilder. Die für die Lebensphilosophie typische Kritik an der mechanistischen Naturwissenschaft nimmt bei diesen Denkern die Form eines Protests gegen die naturwissenschaftliche Betrachtung geistiger Phänomene im Allgemeinen an, gegen deren Reduktion auf Naturphänomene. Daher streben Dilthey, Spengler, Simmel an, spezielle Methoden der Geisteswissenschaften zu entwickeln (Hermeneutik bei Dilthey, Morphologie der Geschichte bei Spengler u. a.).
Im Gegensatz zu Nietzsche, Klages und anderen neigt die historische Richtung jedoch nicht zu einer “Enthüllung“ geistiger Gebilde — im Gegenteil, spezifische Formen der Weltwahrnehmung durch den Menschen sind gerade für sie von größtem Interesse und Bedeutung. Zwar bleibt, da das Leben “von innen“ betrachtet wird, ohne Bezug zu irgendetwas außerhalb von ihm, der grundlegende Illusionismus unüberwindbar, der sämtliche moralischen und kulturellen Werte letztlich ihrer absoluten Bedeutung beraubt und sie auf mehr oder weniger dauerhafte, historisch vergängliche Fakten reduziert. Das Paradox der Lebensphilosophie besteht darin, dass sie in ihren nicht-historischen Varianten das Leben der Kultur als Produkt eines rationalen, “künstlichen“ Prinzips des Seins entgegensetzt, in der historischen jedoch Leben und Kultur identifiziert (indem sie das künstliche, mechanische Prinzip in der der Kultur entgegengehaltenen Zivilisation findet).
Trotz der wesentlichen Unterschiede dieser Varianten zeigt sich ihre Gemeinsamkeit vor allem in der Rebellion gegen das für das Ende des 19. und den Beginn des 20. Jahrhunderts charakteristische Herrschen des Methodologismus und des Epistemologismus, die durch den Einfluss des Kantianismus und des Positivismus verbreitet wurden. Die Lebensphilosophie trat mit der Forderung auf, von formalen Problemen zu substanziellen überzugehen, von der Untersuchung der Natur des Wissens zur Erforschung der Natur des Seins, und in diesem Punkt bestand ihr unbestreitbarer Beitrag zur philosophischen Gedankenwelt. Indem sie den Kantianismus und Positivismus kritisierten, betrachteten die Vertreter der Lebensphilosophie die wissenschaftlich-systematische Form der letzteren als einen Preis, der für den Verzicht auf die Lösung substanzieller, metaphysischer und weltanschaulicher Probleme bezahlt wurde. Im Gegensatz zu diesen Richtungen strebt die Lebensphilosophie danach, eine neue Metaphysik mit dem Lebensprinzip als Grundlage zu schaffen und eine neue, intuitive Erkenntnistheorie zu entwickeln, die diesem entspricht. Das Lebensprinzip, so die Überzeugung der Philosophen dieser Richtung, kann weder mit den Begriffen erfasst werden, in denen die idealistische Philosophie den Begriff des Seins mit Geist und Idee gleichsetzt, noch mit den Mitteln, die in der Naturwissenschaft entwickelt wurden und das Sein gewöhnlich mit toter Materie gleichsetzen, da jeder dieser Ansätze nur eine Seite der lebendigen Ganzheit berücksichtigt. Die lebendige Realität wird unmittelbar durch Intuition erfasst, die es ermöglicht, in das Innere des Gegenstandes einzudringen, um sich mit seiner individuellen, und damit unaussprechlichen Natur in allgemeinen Begriffen zu vereinen. Intuitives Wissen setzt somit nicht das Gegenüber von Erkenntnisträger und Erkanntem, von Subjekt und Objekt voraus; vielmehr ist es möglich aufgrund der ursprünglichen Identität beider Seiten, die auf dem gleichen Lebensprinzip beruhen. In seiner Natur kann intuitives Wissen keinen universellen und notwendigen Charakter haben; es kann nicht erlernt werden wie das rationale Denken, sondern es ist vielmehr mit der künstlerischen Erfassung der Wirklichkeit verwandt. Hierbei belebt die Lebensphilosophie den romantischen Panästhetismus: Kunst wird zu einem eigenartigen Organ (Werkzeug) der Philosophie, der Kult der Kreativität und des Genies wird wiederbelebt.
Der Begriff der Kreativität ist für viele Philosophen dieser Richtung im Wesentlichen ein Synonym für das Leben; je nachdem, welcher Aspekt der Kreativität als der wichtigste angesehen wird, bestimmt sich die Ausrichtung ihrer Lehre. Für Bergson beispielsweise ist Kreativität die Geburt des Neuen, der Ausdruck des Reichtums und Überflusses der schöpferischen Natur, der allgemeine Geist seiner Philosophie — optimistisch. Für Simmel hingegen ist der entscheidendste Moment der Kreativität ihr tragisch-doppelter Charakter: Das Produkt der Kreativität — immer etwas Totes und Erstarrtes — gerät schließlich in ein feindliches Verhältnis zum Schöpfer und dem kreativen Prinzip. Daher auch der allgemeine pessimistischen Ton in Simmels Philosophie, der mit dem fatalistisch-düsteren Pathos Spenglers korrespondiert und an den tiefsten weltanschaulichen Kern der Lebensphilosophie anknüpft — der Überzeugung von der Unabwendbarkeit des Schicksals.
Die adäquateste Form des Ausdrucks jener organischen und geistigen Ganzheiten, die das Augenmerk der Lebensphilosophen auf sich ziehen, ist das künstlerische Mittel — das Symbol. In dieser Hinsicht hatte insbesondere die Lehre Goethes vom “Phaenomenon“ als Urbild, das sich in allen Elementen der lebendigen Struktur selbst reproduziert, großen Einfluss auf sie. Spengler bezieht sich auf Goethe, wenn er versucht, die großen Kulturen der Antike und der Neuzeit aus ihrem Phaenomenon, d.h. dem “Symbol der Urseele“ jeder Kultur, zu entfalten, aus dem diese hervorgeht und wächst wie eine Pflanze aus einem Samen. Dasselbe Verfahren wendet auch Simmel in seinen kulturhistorischen Essays an. Bergson, der ebenfalls das Symbol (das Bild) als die adäquateste Form des Ausdrucks philosophischen Inhalts betrachtet, entwickelt eine neue Vorstellung von der Philosophie, indem er das frühere Verständnis ihrer Essenz und Geschichte neu überdenkt. Jede philosophische Konzeption wird von ihm als eine Form des Ausdrucks jener grundlegenden, tiefgründigen und im Wesentlichen unaussprechlichen Intuition des Schöpfers betrachtet; sie ist ebenso einzigartig und individuell wie die Persönlichkeit ihres Autors, das Gesicht der Epoche, die sie hervorgebracht hat. Was die begriffliche Form betrifft, so ist die Komplexität des philosophischen Systems ein Produkt der Unvergleichbarkeit zwischen der einfachen Intuition des Philosophen und den Mitteln, mit denen er diese Intuition auszudrücken sucht. Im Gegensatz zu Hegel, mit dem Bergson hier polemisiert, erscheint die Geschichte der Philosophie nicht als ein kontinuierlicher Fortschritt und eine Bereicherung, ein Aufstieg eines einheitlichen philosophischen Wissens, sondern — analog zur Kunst — als ein Sammelsurium abgeschlossener, in sich geschlossener geistiger Inhalte, Intuitionen.
Kritisch gegenüber der wissenschaftlichen Form des Wissens kommen die Vertreter der Lebensphilosophie zu dem Schluss, dass die Wissenschaft nicht in der Lage ist, die fließende und schwer fassbare Natur des Lebens zu begreifen, und dass sie rein pragmatischen Zwecken dient — der Umgestaltung der Welt, um sie an die Interessen des Menschen anzupassen. Damit fixiert die Lebensphilosophie das, was als Tatsache erscheint: dass die Wissenschaft zur unmittelbaren produktiven Kraft wird und sich mit der Technik, der industriellen Wirtschaft im Allgemeinen verbindet, indem sie die Fragen “Was?“ und “Warum?“ auf die Frage “Wie?“ reduziert, die schließlich auf das Problem “Wie ist es gemacht?“ hinausläuft. Indem sie die neue Funktion der Wissenschaft reflektiert, sehen die Philosophen des Lebens in den wissenschaftlichen Begriffen Werkzeuge praktischer Tätigkeit, die nur einen sehr indirekten Bezug zur Frage “Was ist Wahrheit?“ haben. An dieser Stelle kommt die Lebensphilosophie dem Pragmatismus nahe, jedoch mit einem gegensätzlichen Wertakzent; die Verwandlung der Wissenschaft in eine produktive Kraft und das Aufkommen des industriellen Typs der Zivilisation ruft bei den meisten Vertretern dieser Richtung keinen Enthusiasmus hervor. Dem hektischen technischen Fortschritt, der das Ende des 19. und den Beginn des 20. Jahrhunderts kennzeichnet, und seinen Agenten in der Gestalt des Wissenschaftlers, Ingenieurs, Technik-Ingenieurs stellen die Lebensphilosophen das aristokratisch-individuelle Schöpfen — das kontemplative Schaffen von Künstlern, Dichtern, Philosophen — entgegen.
Die Philosophie des Lebens, die die wissenschaftliche Erkenntnis kritisiert, hebt und stellt die unterschiedlichen Prinzipien gegenüber, die der Wissenschaft und der Philosophie zugrunde liegen. Nach Bergson beruhen die wissenschaftlichen Konstruktionen einerseits und die philosophische Betrachtung andererseits auf verschiedenen Prinzipien, nämlich Raum und Zeit. Die Wissenschaft ist in der Lage, alles, was eine räumliche Form annehmen kann, in einen Gegenstand zu verwandeln, und alles, was zum Gegenstand gemacht wird, strebt sie zu zergliedern, um es zu beherrschen; das Verleihen einer räumlichen Form, die Form des materiellen Objekts, ist der einzige Weg, wie die Wissenschaft ihr Thema konstruieren kann. Daher kann nur jene Realität, die keine räumliche Form besitzt, sich der modernen Zivilisation widersetzen, die alles Seiende zum Konsumgegenstand verwandelt. Eine solche Realität betrachtet die Philosophie des Lebens als Zeit, die sozusagen die Struktur des Lebens selbst bildet.
“Beherrschen“ kann man die Zeit nur, indem man sich ihrem Fluss hingibt — der “aggressive“ Weg, die Lebensrealität zu beherrschen, ist unmöglich. Trotz aller Unterschiede in der Interpretation des Zeitbegriffs innerhalb der Philosophie des Lebens bleibt als gemeinsames Merkmal die Gegenüberstellung der “lebendigen“ Zeit zur sogenannten naturwissenschaftlichen Zeit, also der “verräumlichten“ Zeit, die als eine Abfolge äußerer, miteinander unabhängiger “Jetzt“-Momente gedacht wird, die gleichgültig gegenüber den Phänomenen sind, die in ihr verlaufen. Mit der Lehre von der Zeit sind die interessantesten Forschungen Bergsons verbunden (die Lehre von der geistigen Erinnerung im Gegensatz zur mechanischen Erinnerung), sowie die Versuche, die historische Zeit als Einheit von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zu konzipieren, die von Dilthey unternommen und von T. Litt, X. Ortega y Gasset sowie M. Heidegger weiterentwickelt wurden.
Die Philosophie des Lebens versuchte nicht nur, eine neue Ontologie zu schaffen und ihr angemessene Erkenntnisformen zu finden, sondern trat auch als eine besondere Art der Weltschau auf, die ihren lebendigsten Ausdruck bei Nietzsche fand. Diese Weltschau kann man als Neuheidentum bezeichnen. Ihr liegt die Vorstellung von der Welt als einem ewigen Spiel der irrationalen Kraft — des Lebens — zugrunde, außerhalb dessen es keine höhere Realität gibt. Im Gegensatz zur positivistischen Philosophie, die mit Hilfe des Verstandes die blinden Naturkräfte dem Menschen unterwerfen will, forderte Nietzsche, sich der Lebenskraft zu unterwerfen, sich in einem ekstatischen Rausch mit ihr zu vereinen; den wahren Heroismus sah er nicht im Widerstand gegen das Schicksal, nicht in dem Versuch, das Schicksal zu überlisten, sondern in seiner Annahme, in der “amor fati“ — der tragischen Liebe zum Schicksal. Das neuheidnische Weltgefühl Nietzsches wächst aus seiner Ablehnung des Christentums. Nietzsche lehnt die christliche Moral der Liebe und des Mitgefühls ab; diese Moral, so ist er überzeugt, richtet sich gegen die gesunden vitale Instinkte und erzeugt Ohnmacht und Verfall. Das Leben ist ein Kampf, in dem der Stärkere siegt. In der Person Nietzsches und anderer Philosophen des Lebens wandte sich das europäische Bewusstsein gegen die in ihm herrschende, tragische, religionsfreie Weltschau, aber auch gegen seine christlichen Wurzeln und gewann die Schärfe und Tragik einer Weltanschauung zurück, die es längst verloren hatte.
Das tragische Motiv, das der Philosophie Nietzsches zugrunde liegt und von Spengler, Simmel, Ortega y Gasset und anderen weiterentwickelt wurde, fand Aufnahme bei den Vertretern des Symbolismus am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts: bei H. Ibsen, M. Maeterlinck, A. N. Skryabin, A. A. Blok, A. Weiß und später bei L. F. Céline, A. Camus, J.-P. Sartre. Oft jedoch verwandelt sich auf paradoxe Weise die mutige, scheinbar “Liebe zum Schicksal“ in eine Ästhetik des Willens: Das Verlangen nach Verschmelzung mit der Natur erzeugt das Gefühl des süßen Schreckens; der Kult des Ekstases bildet ein Bewusstsein, für das der höchste Lebenszustand die Trunkenheit ist — gleichgültig, ob durch Musik, Poesie, Revolution oder Erotik.
So kam die Philosophie des Lebens im Kampf gegen das verstandesmäßig-mechanistische Denken in ihren extremen Formen zum Verwerfen jeder systematischen Argumentationsweise (da sie der Lebenswirklichkeit nicht gerecht wird) und damit zur Ablehnung der Philosophie, weil letztere ohne die Besinnung auf das Sein in Begriffen nicht auskommt und somit ohne die Schaffung eines Systems von Begriffen. Die Philosophie des Lebens war nicht nur eine Reaktion auf eine Art des Denkens, sie trat auch als Kritik an der gesamten industriellen Gesellschaft auf, in der die Arbeitsteilung auch in die geistige Produktion eindringt. Doch zusammen mit dem Kult des Schöpfertums und des Genies bringt sie nicht nur den Geist der Elitarität mit sich, wobei die Ideale von Gerechtigkeit und Gleichheit vor dem Gesetz, die von der Aufklärung gepriesen wurden, dem Lehren von Hierarchie weichen, sondern auch den Kult der Stärke. Im 20. Jahrhundert tauchen Versuche auf, nicht nur den Psychologismus der Philosophie des Lebens zu überwinden und eine neue, ohne irrationalen Pathos begründete Intuitionstheorie zu entwickeln (die Phänomenologie von Husserl), sondern auch den für sie charakteristischen Pantheismus, dem zufolge es kein Sein gibt, das einem transzendenten Ursprung zugänglich ist. An die Stelle der Philosophie des Lebens tritt der Existentialismus und der Personalismus, das Verständnis des Menschen als Individuum weicht dem Verständnis als Persönlichkeit.