Ein Leitfaden zur Philosophie: Ein Blick auf Schlüsselkonzepte und Ideen - 2024
Der Ursprung der Philosophie im antiken Griechenland
Antike Philosophie
Geschichte der westlichen Philosophie
Die Philosophie verfolgt einen ganz eigenen Zugang zu ihrem Gegenstand, der sie sowohl vom alltagspraktischen als auch vom naturwissenschaftlichen Ansatz unterscheidet. So wie ein Mathematiker fragt, was eine Einheit ist, und eine recht komplexe Definition dieses scheinbar einfachsten Begriffs gibt, so stellt auch der Philosoph seit frühester Zeit die Frage: Was ist das Sein? Was bedeutet es, zu sein? Diese Besonderheit der Philosophie gibt einen Hinweis darauf, warum und wann die Philosophie entsteht. Über das als selbstverständlich Angesehene nachzudenken, heißt, den Alltagszugang zu den Dingen zu hinterfragen und seine Rechtmäßigkeit anzuzweifeln. Dies wiederum bedeutet, Zweifel an allgemein akzeptiertem Wissen und traditionellem Verhalten zu hegen.
Wann und warum wird solch ein Zweifel möglich? Vermutlich dann, wenn in der gesellschaftlichen Ordnung und im Bewusstsein der Menschen ernsthafte Widersprüche und Konflikte auftreten, die durch traditionelle Überzeugungen und Glaubensvorstellungen, die mit der Mythologie verknüpft sind, nicht mehr aufgelöst werden können. Hier entsteht das Bedürfnis, zwischen dem allgemein Akzeptierten (Meinung) und dem, was tatsächlich wahr ist (Wissen), zu unterscheiden. Diese Unterscheidung entsteht mit der Philosophie und erklärt, weshalb die Philosophie von Beginn an als Kritik am Hergebrachten, am Alltagsbewusstsein, an traditionellen Werten und moralischen Normen auftritt. Die ersten griechischen Philosophen kritisierten die traditionelle Mythologie, insbesondere die homerische Mythologie, und warfen ihr logische Widersprüchlichkeit und Unsittlichkeit vor.
Doch auch als Kritiker bricht der Philosoph nicht völlig mit der kulturellen Tradition, mit den Sitten und Gebräuchen seiner sozialen Gemeinschaft. Das Drama der Philosophiegeschichte — und die historische Existenz der Philosophen ist häufig dramatisch, zuweilen sogar tief tragisch — wurzelt in der Haltung des Philosophen zur Tradition: zur religiösen und moralischen, zur kulturellen und künstlerischen, zur politischen und rechtlichen, und schließlich zu den traditionellen Formen des Alltags und des Lebensstils. Der Philosoph stellt all dies infrage, doch tut er es, um zu den wahren Ursprüngen vorzudringen, aus denen die Tradition selbst erwächst; darin liegt der Sinn seiner Frage: Was bedeutet es zu sein? Was ist das Sein? Und sobald er diese Wurzeln erfasst, auf die grundlegende Frage antwortet und positive Lösungen für andere Fragen entwickelt, stützt sich der Philosoph — in der einen oder anderen Form, in unterschiedlichem Maß — wieder auf Vorstellungen, die er selbst mit der Muttermilch, mit den Sitten und Bräuchen seines Volkes aufgesogen hat. Einige traditionelle Lebensrichtlinien stützt und vertieft er, andere verändert und korrigiert er, und wieder andere verwirft er als schädliche Irrtümer und Vorurteile. Dennoch spiegeln all diese Positionen die verschiedenen Formen der Abhängigkeit des philosophischen Denkens von der eigenen Kultur wider.
Die Philosophie ist somit von Anfang an tief im Lebensumfeld des Menschen verwurzelt; und wie abstrakt auch die Überlegungen der Philosophen erscheinen mögen, sie enden nicht zufällig stets in einer Lehre darüber, wie der Mensch leben soll und worin der Sinn und die Rechtfertigung seines Handelns liegen. Diese Fragen sind nicht zufällig, denn im Grunde entspringt die philosophische Reflexion eben jenen lebensnahen Fragestellungen.
Welche gesellschaftlichen Verhältnisse und kulturellen Veränderungen begünstigen das Entstehen der Philosophie? In der griechischen Antike entsteht die Philosophie zu einem Zeitpunkt, an dem der Sinn des menschlichen Lebens, seine gewohnte Ordnung und sein Lebensmuster bedroht erscheinen. Nicht nur die Entstehung, sondern auch das Aufblühen der Philosophie in bestimmten historischen Phasen ist meist durch eine tiefgreifende soziale Krise bedingt, in der es dem Menschen schwerfällt, ja manchmal unmöglich erscheint, nach den alten Mustern weiterzuleben, wenn frühere Werte ihre Bedeutung verlieren und die Frage drängend wird: Wie soll es weitergehen?
Die Entstehung der antiken Philosophie fällt in die Epoche des 6. Jahrhunderts v. Chr., als die traditionellen, mythologisch geprägten Vorstellungen ihre Unzulänglichkeit und ihre Unfähigkeit offenbaren, den neuen weltanschaulichen Anforderungen gerecht zu werden.
Die Religion und Mythologie des antiken Griechenland sind polytheistisch, also mehrgöttergläubig; die Götter sind anthropomorphe Wesen, mächtig und unsterblich, aber ihre Macht über die Welt ist nicht grenzenlos: Götter wie Menschen unterliegen dem Schicksal, das eine blinde und unerbittliche Macht darstellt, der sich niemand entziehen kann. Zwischen Göttern und Menschen gibt es keine unüberbrückbare Kluft: Wie die Menschen sind auch die Götter von Leidenschaften getrieben, sie können wohlwollend oder hinterlistig sein, streiten und verbünden sich, verlieben sich ineinander und in Sterbliche, intrigieren und ziehen die Menschen oft in ihre Auseinandersetzungen hinein. Der griechische Historiker Herodot berichtet, dass jedes göttliche Wesen neidisch und wankelmütig ist, die Einhaltung des allgemeinen Maßes überwacht und jeden stürzt, der dieses Maß überschreitet — eine tief im damaligen Bewusstsein verankerte Vorstellung. Die Götter wachen über die Gerechtigkeit und garantieren die gesellschaftlich akzeptierten Ordnungen. So bestrafen etwa die Rachegöttinnen, die Erinnyen, Meineide, familiäre Vergehen und die Beleidigung der Armen.
Die Krise des mythologischen Bewusstseins wurde durch eine Reihe von Faktoren ausgelöst. Eine wichtige Rolle spielte die wirtschaftliche Entwicklung Griechenlands und der ökonomische Aufschwung im 9.—7. Jahrhundert v. Chr.: die Ausweitung des Handels und der Schifffahrt, die Gründung griechischer Kolonien, die Zunahme des Wohlstands und dessen Umverteilung, das Bevölkerungswachstum und die Urbanisierung. Durch den Ausbau von Handel, Seefahrt und Kolonialisierung neuer Gebiete weitete sich der geographische Horizont der Griechen. Das Mittelmeer war nun bis Gibraltar bekannt, wohin ionische Handelsschiffe segelten, und damit offenbarte sich die Unzulänglichkeit des homerischen Weltbilds. Am bedeutsamsten aber war die Erweiterung der Kontakte zu anderen Völkern, die Entdeckung für die Griechen fremder Sitten, Gebräuche und Glaubensvorstellungen, die sie dazu brachte, die Relativität und Bedingtheit ihrer eigenen sozialen und politischen Institutionen zu erkennen. Diese Faktoren führten zu sozialer Differenzierung und zum Zerfall traditioneller Lebensformen und trugen so zur Krise der hergebrachten Ordnung und zum Verlust fester moralischer Orientierung bei.
Bis zum 6. Jahrhundert v. Chr. setzt eine allmähliche Auflösung des traditionellen Typs sozialer Beziehungen ein, der eine mehr oder weniger starre Ständetrennung vorsah. Jede soziale Schicht verfügte über eine über Jahrhunderte festgefügte Lebensweise und gab sowohl diesen Lebensstil als auch ihre Fähigkeiten und Kenntnisse von Generation zu Generation weiter. Die Mythologie bildete dabei die Wissensform, die allen Ständen gemeinsam war; obwohl jede Region eigene Götter verehrte, unterschieden sich diese im Wesen und in ihrer Beziehung zum Menschen kaum voneinander: Es handelte sich um Naturgötter, Verkörperungen kosmischer Naturkräfte. In der mythischen Epoche war das Bewusstsein des Menschen noch nicht vollständig individualisiert; der Mensch verstand sich nicht so sehr als eigenständiges Wesen, sondern vielmehr als Teil seiner Schicht, seiner sozialen Gemeinschaft, und darüber hinaus seines Volkes und seiner Religion.
Die Zersetzung der überlieferten Formen menschlicher Verbindungen verlangte vom Individuum eine neue Lebenshaltung. Die Philosophie war eine der Antworten auf diese Herausforderung. Sie bot dem Menschen einen neuen Typus der Selbstbestimmung an: nicht durch Gewohnheit und Tradition, sondern durch den eigenen Verstand. Der Philosoph sprach zu seinem Schüler: Nimm nichts blindlings an; denke selbst. An die Stelle der Bräuche trat die Bildung, an die Stelle des Vaters der Lehrer; damit wurde auch die väterliche Autorität in der Familie bis zu einem gewissen Grad in Frage gestellt. Die Funktionen von Vater und Lehrer trennten sich, und über mehrere Jahrhunderte — vom 7. bis zum 4. Jahrhundert v. Chr. — entfaltete sich ein heftiger Kampf zwischen Geschlecht und Geist, zwischen Prinzipien, die zuvor als Einheit auftraten.
Dieser Kampf nahm allerdings unterschiedliche Formen an. Seine erste Phase fand Ausdruck in der griechischen Tragödie. Die aus den Geschlechterbeziehungen hervorgegangene Moralität geriet in Konflikt, nicht nur mit dem individuellen Interesse einer Einzelperson, sondern es prallten vielmehr die Geschlechtermoral, die das Allgemeine in seiner natürlichen Unmittelbarkeit repräsentierte, und ein neuer, sich entwickelnder Typus des Allgemeinen aufeinander. Diesem gegenüber erschienen Geschlecht und Familie als etwas Partikulares: der Staat, dessen Bürger als rechtliches und politisches Ganzes verbunden waren.
Ein solches Aufeinandertreffen sehen wir in den Tragödien Euripides' “Iphigenie in Aulis“, Aischylos’ “Agamemnon“ und “Eumeniden“ (5. Jahrhundert v. Chr.). Der mykenische König Agamemnon opfert seine Tochter Iphigenie den Göttern, um den Erfolg des griechischen Heeres im Krieg gegen Troja zu sichern, und unterwirft damit das Leben seines eigenen Geschlechts den allgemeinen Interessen. Seine Frau Klytämnestra hingegen verteidigt die Geschlechtermoral und tötet den siegreich aus dem Feldzug zurückgekehrten Mann. Agamemnons und Klytämnestras Sohn Orestes verehrt seine Mutter, muss jedoch das Recht des Vaters verteidigen. So rächt er dessen Tod, indem er die Mutter tötet.
Die Philosophie entsteht somit in einem Moment des Zerfalls des traditionellen Lebens und der überlieferten Werte. Einerseits tritt sie als Kritik an der Tradition auf und verstärkt das Misstrauen gegenüber den über Jahrhunderte gewachsenen Lebensformen und Glaubenssätzen, andererseits sucht sie nach einem Fundament, auf dem sich ein neues Gebäude, ein neuer Kulturtypus errichten ließe.