Ein Leitfaden zur Philosophie: Ein Blick auf Schlüsselkonzepte und Ideen - 2024
Kreativität und Intuition. Erklärung und Verständnis
Erkenntnis als Gegenstand philosophischer Analyse
Wissen und Erkenntnis
Im Prozess des Erkennens spielen neben rationalen auch irrationale Mechanismen eine Rolle. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie mit Rationalität unvereinbar oder irrational sind. Was also ist die Besonderheit der irrationalen Erkenntnismuster? Warum sind sie notwendig, welche Rolle spielen sie im Erkennensprozess? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir klären, was Intuition und Kreativität bedeuten.
Im realen Leben sehen sich die Menschen schnell verändernden Situationen gegenüber. Deshalb müssen sie neben den auf allgemein anerkannten Normen basierenden Entscheidungen auch unkonventionelle Lösungen finden. Dieser Prozess wird üblicherweise als Kreativität bezeichnet.
Platon betrachtete Kreativität als eine göttliche Fähigkeit, die mit einer besonderen Art von Wahnsinn verwandt ist. Die christliche Tradition deutete Kreativität als höchste Manifestation des Göttlichen im Menschen. Kant sah Kreativität als das herausragende Merkmal des Genies und stellte sie der rationalen Tätigkeit gegenüber. Aus Kants Sicht war rationale Tätigkeit, wie die wissenschaftliche, bestenfalls das Werk von Talent, doch wahre Kreativität — zugänglich nur den großen Propheten, Philosophen oder Künstlern — war stets dem Genie vorbehalten. Den Kreativität als besondere Persönlichkeitsmerkmal maß man auch in der Existenzialphilosophie eine große Bedeutung bei. Vertreter der Tiefenpsychologie, wie Freud, Jung oder der deutsche Psychiater Kretschmer, der das Buch “Geniale Menschen“ schrieb, ordneten Kreativität vollständig dem Unbewussten zu, überbetonten ihre Einmaligkeit und Nichtwiederholbarkeit und erklärten sie in gewisser Weise für unvereinbar mit rationalem Wissen.
Die Mechanismen der Kreativität sind noch nicht ausreichend erforscht. Doch es lässt sich mit Sicherheit sagen, dass Kreativität ein Produkt der bio-sozialen Evolution des Menschen darstellt. Bereits im Verhalten höherer Tiere können, wenn auch in elementarer Form, kreative Akte beobachtet werden. Ratten fanden nach zahlreichen Versuchen den Ausweg aus einem äußerst verworrenen Labyrinth. Schimpansen, die die Gebärdensprache erlernten, beherrschten nicht nur mehrere hundert Worte und grammatikalische Formen, sondern bildeten manchmal auch völlig neue Sätze, wenn sie mit einer unkonventionellen Situation konfrontiert wurden, von der sie dem Menschen etwas mitteilen wollten. Offensichtlich ist die Fähigkeit zur Kreativität nicht nur in den bio-physikalischen und neuro-physiologischen Strukturen des Gehirns verankert, sondern auch in seiner “funktionalen Architektur“. Diese stellt ein besonderes System organisierter und miteinander verbundener Operationen dar, die von verschiedenen Gehirnarealen ausgeführt werden. Durch sie entstehen sinnliche Bilder und Abstraktionen, wird symbolische Information verarbeitet, gespeichert, Verbindungen zwischen Elementen und Gedächtnismodulen hergestellt, gespeicherte Informationen abgerufen und verschiedene Bilder und abstrakte Wissenseinheiten gruppiert und kombiniert. Da das menschliche Gehirn in seiner biologischen und neurophysiologischen Struktur wesentlich komplexer ist als das Gehirn aller höheren Tiere, ist auch seine “funktionale Architektur“ entsprechend komplexer. Dies ermöglicht eine außergewöhnliche, nahezu unbewertbare Fähigkeit, neue Informationen zu verarbeiten. Eine besondere Rolle spielt dabei das Gedächtnis, also die Speicherung bereits erlangter Informationen. Es umfasst das Arbeitsgedächtnis, das in kognitiven und praktischen Tätigkeiten ständig genutzt wird, das Kurzzeitgedächtnis, das für kurze Zeiträume in der Lage ist, häufig wiederkehrende Aufgaben zu lösen, sowie das Langzeitgedächtnis, das Informationen speichert, die für die Lösung von seltenen Problemen in größeren Zeiträumen benötigt werden.
Wie verhalten sich also die rationalen und kreativen Prozesse im Erkennens und praktischen Handeln zueinander? Die menschliche Tätigkeit ist zielgerichtet. Um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, müssen eine Reihe von Aufgaben und Unteraufgaben gelöst werden. Einige davon können mit typischen rationalen Methoden gelöst werden. Andere erfordern die Schaffung oder Erfindung neuer, unkonventioneller Regeln und Methoden. Dies geschieht, wenn wir es mit prinzipiell neuen Situationen zu tun haben, die keine exakten Entsprechungen in der Vergangenheit besitzen. An dieser Stelle wird Kreativität notwendig. Sie stellt einen Mechanismus der Anpassung des Menschen an die unendlich vielfältige und wandelbare Welt dar, einen Mechanismus, der sein Überleben und seine Entwicklung sichert. Dabei geht es nicht nur um die äußere, objektive Welt, sondern auch um die innere, subjektive Welt des Menschen, die unzähligen Erfahrungen, psychischen Zustände, Stimmungen, Emotionen, Fantasien, Willensakte usw. Diese Seite kann nicht von der Rationalität erfasst werden, die eine gigantische, aber dennoch endliche Zahl von Regeln, Normen, Standards und Maßstäben umfasst. Daher ist Kreativität nicht irrational, also nicht feindlich gegenüber der Rationalität, nicht antirational, wie viele Denker der Vergangenheit meinten; sie ist weder von Gott, wie Platon dachte, noch vom Teufel, wie viele mittelalterliche Theologen und Philosophen annahmen. Vielmehr ist Kreativität, die unbewusst oder halb bewusst fließt, die sich nicht an feste Regeln und Standards hält, letztlich auf der Ebene der Ergebnisse mit rationaler Tätigkeit vereinbar, in diese integriert und kann in manchen Fällen sogar zu neuen Formen rationalen Handelns führen. Dies betrifft sowohl das individuelle als auch das kollektive Schaffen. So wurde das künstlerische Werk von Michelangelo, das musikalische Werk von Schostakowitsch, das wissenschaftliche Schaffen von Galilei, Kopernikus und Lobatschewski zu einem Bestandteil der Kultur und Wissenschaft, auch wenn es in seiner unmittelbaren ursprünglichen Form nicht den etablierten Mustern, Standards und Maßstäben entsprach.
Jeder Mensch besitzt in gewissem Maße kreative Fähigkeiten, also die Fähigkeit, neue Handlungsweisen zu entwickeln, neues Wissen zu erlangen, Probleme zu formulieren und Unbekanntes zu erkennen. Jedes Kind, das die ihm fremde Welt entdeckt und die Sprache, Normen und Kultur erlernt, betreibt im Wesentlichen Kreativität. Aus der Sicht der Erwachsenen erlernt es jedoch das bereits Bekannte, es wird in das bereits Entdeckte, Bewährte eingeführt. Das Neue für das Individuum ist also nicht immer auch Neues für die Gesellschaft. Wahre Kreativität in Kultur, Politik, Wissenschaft und Produktion zeichnet sich durch prinzipielle Neuheit der Ergebnisse im Hinblick auf ihre historische Bedeutung aus.
Was bildet also den Mechanismus der Kreativität, die “Feder“ ihres Antriebs, ihre Besonderheiten? Ein wesentlicher solcher Mechanismus ist die Intuition. Die antiken Denker, etwa Demokrit und besonders Platon, betrachteten sie als ein inneres Sehen, eine besondere, höhere Fähigkeit des Geistes. Im Gegensatz zum gewöhnlichen sinnlichen Sehen, das Informationen über vergängliche Phänomene liefert, die keinen großen Wert besitzen, ermöglicht die Intuition, so Platon, das Erkennen der unveränderlichen und ewigen Ideen, die außerhalb und unabhängig vom Menschen existieren. Descartes hielt Intuition für die Fähigkeit, klar und deutlich die Ideen in unserer Seele zu erkennen. Doch wie genau die Intuition “beschaffen“ ist, erklärte keiner dieser Denker. Trotz der unterschiedlichen Deutungen der Intuition durch nachfolgende Generationen europäischer Philosophen (Feuerbach zum Beispiel glaubte, sie sei nicht in der Erkenntnis höherer Ideen verwurzelt, sondern in der Sinnlichkeit des Menschen) sind wir bis heute nur wenig weiter gekommen im Verständnis ihrer Natur und Mechanismen. Gerade deshalb kann die Intuition und das damit verbundene kreative Schaffen in keiner befriedigenden Weise durch ein Regelwerk beschrieben werden. Allerdings lässt sich mit Sicherheit sagen, dass Intuition eine Reihe bestimmter Phasen umfasst. Dazu gehören: 1) das unbewusste Sammeln und Verteilen von Bildern und Abstraktionen im Gedächtnis; 2) das unbewusste Kombinieren und Umarbeiten der gesammelten Abstraktionen, Bilder und Regeln, um eine bestimmte Aufgabe zu lösen; 3) das klare Bewusstsein für die Aufgabe; 4) das für den betreffenden Menschen unerwartete Finden der Lösung (der Beweis eines Theorems, die Schaffung eines künstlerischen Bildes, das Finden einer konstruktiven oder militärischen Lösung usw.), die der gestellten Aufgabe entspricht. Oft kommt eine solche Lösung zu einem unerwarteten Zeitpunkt, wenn das bewusste Handeln des Gehirns auf die Lösung anderer Aufgaben ausgerichtet ist oder sogar im Schlaf. Es ist bekannt, dass der berühmte französische Mathematiker Henri Poincaré einen wichtigen mathematischen Beweis während eines Spaziergangs am Seeufer fand, und dass Puschkin die für ihn notwendige poetische Zeile im Schlaf ersann.
Es gibt jedoch nichts Geheimnisvolles in der schöpferischen Tätigkeit, und sie ist dem wissenschaftlichen Studium zugänglich. Diese Tätigkeit wird vom Gehirn ausgeführt, ist aber nicht mit dem bloßen Set von Operationen, die es ausführt, identisch. Wissenschaftler haben die sogenannte rechts-links Asymmetrie des Gehirns entdeckt. Experimentell wurde nachgewiesen, dass bei höheren Säugetieren die rechte und die linke Gehirnhälfte unterschiedliche Funktionen erfüllen. Die rechte Hälfte verarbeitet und speichert hauptsächlich Informationen, die zur Bildung sinnlicher Eindrücke führen, während die linke das Abstrahieren vollzieht, Konzepte und Urteile entwickelt, Informationen mit Bedeutung und Sinn auflädt und rationale, auch logische, Regeln entwickelt und speichert. Der ganzheitliche Erkenntnisprozess wird durch die Interaktion der Operationen und Kenntnisse dieser Hemisphären ermöglicht. Wenn infolge einer Krankheit, einer Verletzung oder einer chirurgischen Intervention die Verbindung zwischen diesen gestört wird, wird der Erkenntnisprozess unvollständig, ineffektiv oder gar unmöglich. Doch die rechts-linke Asymmetrie entsteht nicht auf neurophysiologischer, sondern auf sozial-psychologischer Grundlage im Prozess der Erziehung und Bildung. Sie hängt auch mit der Art der praktischen Tätigkeit zusammen. Bei Kindern wird sie klar erst im Alter von vier bis fünf Jahren fixiert, und bei Linkshändern sind die Funktionen der Hemisphären entgegengesetzt verteilt: die linke Hemisphäre erfüllt die Funktionen der sinnlichen, die rechte die der abstrakten rationalen Erkenntnis.
Im Prozess der Kreativität und Intuition vollziehen sich komplexe funktionelle Übergänge, bei denen in einem bestimmten Moment die getrennte Tätigkeit der linken und rechten Hemisphäre, die jeweils mit der Arbeit an abstrakten und sinnlichen Wissensinhalten betraut sind, plötzlich zusammengeführt wird, was zum gewünschten Ergebnis führt, zu einer Erleuchtung, einer kreativen Entzündung, die als Entdeckung, als das Herausleuchten dessen, was zuvor im Dunkel des unbewussten Handelns verborgen war, wahrgenommen wird.
Nun können wir uns den wichtigsten kognitiven Verfahren des Erklärens und Verstehens zuwenden.
Normalerweise werden diese als zusammenfallende oder sich überschneidende Prozesse betrachtet. Eine eingehende Analyse der menschlichen Erkenntnis, die intensiv in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im gesamten 20. Jahrhundert betrieben wurde, hat jedoch wesentliche Unterschiede zwischen ihnen aufgezeigt. Die Neokantianer Wilhelm Windelband, Heinrich Rickert und andere vertraten die Auffassung, dass die Erkenntnis der Natur grundlegend von der Erkenntnis der Gesellschaft und des Menschen verschieden ist. Naturphänomene, so ihre Ansicht, unterliegen objektiven Gesetzen, während Phänomene des sozialen Lebens und der Kultur von völlig individuellen Merkmalen der Menschen und unverwechselbaren historischen Situationen abhängen. Deshalb sei das Erkennen der Natur ein generalisierender, also verallgemeinernder Prozess, während das Erkennen sozialer Phänomene ein individualisierender sei. Dementsprechend sei für die Naturwissenschaften die Hauptaufgabe die Einordnung einzelner Fakten unter allgemeine Gesetze, während für die Sozialwissenschaften vor allem das Erkennen der inneren Einstellungen, Motive und verborgenen Bedeutungen von Handlungen und Zielen der Menschen von Bedeutung sei. Auf dieser Grundlage vertrat Wilhelm Dilthey die Auffassung, dass die Hauptmethode der Erkenntnis in den Naturwissenschaften das Erklären, in den Geistes- und Kulturwissenschaften jedoch das Verstehen sei. Ist dies korrekt? In der Tat enthält dieser Ansatz sowohl richtige als auch fehlerhafte Momente. Richtig ist, dass die modernen Naturwissenschaften in erster Linie darauf abzielen, die Gesetze der Phänomene zu ermitteln und diese mit den jeweiligen empirischen Erkenntnissen zu verbinden. Falsch ist jedoch, dass die Sozialwissenschaften keine objektiven Gesetze widerspiegeln und diese nicht für die Erklärung sozialer und historischer Phänomene sowie menschlicher Handlungen nutzen. Richtig ist, dass das Verstehen der Ansichten, Meinungen, Überzeugungen, Glaubenssätze und Ziele anderer Menschen eine äußerst komplexe Aufgabe darstellt, umso mehr, als viele Menschen sich selbst nicht richtig oder nicht vollständig verstehen, und manchmal absichtlich versuchen, andere in die Irre zu führen. Falsch ist jedoch die Annahme, dass das Verstehen nicht auf Naturphänomene anwendbar sei. Jeder, der sich mit den Natur- oder Ingenieurwissenschaften beschäftigt hat, weiß, wie schwierig und zugleich wichtig es ist, ein bestimmtes Phänomen, Gesetz oder Experimentergebnis zu verstehen. Daher sind das Erklären und das Verstehen zwei sich ergänzende Erkenntnisprozesse, die sowohl in der Naturwissenschaft, als auch in der Sozialwissenschaft und der Technik Anwendung finden.
Die Erkenntnistheorie unterscheidet zwischen strukturellen Erklärungen, die die Frage beantworten, wie ein Objekt aufgebaut ist, beispielsweise den Aufbau und die Wechselwirkungen der Elementarteilchen im Atom; funktionellen Erklärungen, die beantworten, wie ein Objekt wirkt und funktioniert, zum Beispiel ein Tier, ein individueller Mensch oder eine bestimmte Arbeitsgemeinschaft; kausalen Erklärungen, die die Frage beantworten, warum ein Phänomen aufgetreten ist, warum gerade diese Faktoren zu einem bestimmten oder einem anderen Ergebnis geführt haben, und so weiter. Dabei nutzen wir bei der Erklärung bereits vorhandenes Wissen, um andere Phänomene zu erklären. Der Übergang von allgemeineren zu spezifischeren und empirischeren Erkenntnissen ist das Verfahren der Erklärung. Dasselbe Phänomen kann dabei je nach den zugrundegelegten Gesetzen, Konzepten und theoretischen Blickwinkeln unterschiedlich erklärt werden. So lässt sich die Umlaufbahn der Planeten um die Sonne — ausgehend von der klassischen Himmelsmechanik — durch die Wirkung von Gravitationskräften erklären. Aus der Sicht der allgemeinen Relativitätstheorie wird sie hingegen durch die Krümmung des um die Sonne liegenden Raums im Gravitationsfeld erklärt. Welche dieser Erklärungen die richtige ist, entscheidet die Physik. Die philosophische Aufgabe besteht jedoch darin, die Struktur der Erklärung und die Bedingungen zu untersuchen, unter denen sie zu richtigen Erkenntnissen über die erklärten Phänomene führt. Dies führt uns unmittelbar zur Frage der Wahrhaftigkeit von Wissen. Wissen, das als Grundlage für Erklärungen dient, nennt man erklärendes Wissen. Wissen, das durch Erklärungen gestützt wird, nennt man erklärtes Wissen. Als erklärendes Wissen können nicht nur Gesetze, sondern auch einzelne Fakten auftreten. So kann etwa das Faktum einer Atomreaktorkatastrophe eine Erklärung für den Anstieg der Radioaktivität in der Atmosphäre über dem benachbarten Gebiet liefern. Als erklärtes Wissen können nicht nur Fakten, sondern auch weniger allgemeine Gesetze dienen. Ein bekanntes Gesetz aus der Elementarphysik, das Ohmsche Gesetz, kann entweder auf der Grundlage des Modells des Elektronengases von Lorentz-Druede oder unter Anwendung noch grundlegenderer Gesetze der Quantenphysik erklärt werden.
Was also gibt uns der Prozess der Erklärung? Zum einen stellt er tiefere und stabilere Verbindungen zwischen verschiedenen Wissenssystemen her, was es erlaubt, neues Wissen über Gesetze und einzelne Naturphänomene zu integrieren. Zum anderen ermöglicht er es, zukünftige Situationen und Prozesse vorherzusagen und zu prognostizieren, da die logische Struktur von Erklärung und Prognose grundsätzlich ähnlich ist. Der Unterschied besteht jedoch darin, dass die Erklärung sich auf Tatsachen, Ereignisse, Prozesse oder Gesetze bezieht, die in der Vergangenheit existiert haben oder stattgefunden haben, während Prognosen sich auf das beziehen, was in der Zukunft geschehen soll. Prognosen und Voraussagen sind die notwendige Grundlage für die Planung und das Design sozialer sowie produktiv-praktischer Aktivitäten. Je richtiger, tiefer und begründeter unsere Voraussicht der möglichen Ereignisse ist, desto effektiver werden unsere Handlungen sein.
Was unterscheidet nun das Verstehen vom Erklären? Oft wird gesagt, dass ein Phänomen erklärt werden muss, um es zu verstehen. Aber ebenso hört man, dass eine Erklärung verständlich oder unverständlich sein kann, dass man nur das erklären kann, was bereits verständlich ist, und so weiter. Um diese Verwirrung zu vermeiden, sollten wir klarstellen, dass wir in allen Phasen unserer Erkenntnistätigkeit ständig mit etwas Unbekanntem konfrontiert sind, von dem wir kein Wissen haben. In diesen Fällen sagen wir, dass ein bestimmtes Phänomen unverständlich ist, dass wir nichts oder fast nichts darüber wissen. So verstehen wir zum Beispiel bestimmte alte Texte nicht, weil uns die Sprache unbekannt ist oder weil einzelne Ausdrücke unklar sind, da wir nicht wissen, welchen Sinn der Autor in sie legte. Schließlich können wir auch bestimmte Aspekte eines Arguments oder einer Argumentation nicht verstehen, weil uns die Kultur, die Eigenheiten der Epoche oder die historischen Details fehlen, die für das Verständnis des Textes aus der betreffenden Zeit notwendig sind. Der Autor und der Leser können durch Jahrhunderte getrennt sein und zu unterschiedlichen sprachlichen und kulturellen Gruppen gehören. All dies erschwert das Verstehen. Gerade aus der Notwendigkeit, solche Probleme zu lösen, entstand die spezielle Wissenschaft des Verstehens — die Hermeneutik. Ihre bedeutendsten Vertreter — F. Schleiermacher, W. Dilthey, H. G. Gadamer, P. Ricœur und andere — formulierten auch die zentrale Schwierigkeit des Verstehensprozesses. Um einen schriftlichen oder mündlichen Text zu verstehen, muss man die Bedeutung und den Sinn jedes Wortes, jedes Begriffs, jedes Satzes oder Abschnitts verstehen, wie sie von den Autoren zugedacht waren. Doch andererseits, um diese Details und Teile zu verstehen, muss man auch den Sinn und die Bedeutung des Kontexts verstehen, in dem sie enthalten sind, da der Sinn und die Bedeutung der Teile vom Sinn und der Bedeutung des Ganzen abhängen. Diese komplexe Abhängigkeit wurde als “hermeneutischer Kreis“ bezeichnet. Mit einer solchen Situation sind wir nicht nur bei der Textstudie konfrontiert, sondern auch in der mündlichen Kommunikation.
Verstehen ist kein einzelner Akt, sondern ein langer und komplexer Prozess. Wir bewegen uns ständig von einem Verstehensniveau zum anderen. Dabei kommen Verfahren wie die Interpretation zum Einsatz — die anfängliche Zuordnung von Informationen zu Sinn und Bedeutung; die Reinterpretation — die Präzisierung und Veränderung von Sinn und Bedeutung; die Konvergenz — die Vereinigung und Verschmelzung zuvor getrennter Bedeutungen; die Divergenz — die Aufspaltung eines einst einheitlichen Sinns in verschiedene Unterbedeutungen; die Konversion — eine qualitative Veränderung des Sinns und der Bedeutung, ihre radikale Umgestaltung und so weiter. Verstehen stellt folglich die Realisierung vieler Verfahren und Operationen dar, die eine wiederholte Umwandlung von Informationen beim Übergang vom Nichtwissen zum Wissen sicherstellen. Die Schaffung höherer Abstraktionen und ihre Vereinigung in verschiedene konzeptionelle Schemata bildet gewissermaßen die Windungen einer Spirale, deren Bewegung durch die Rückkehr zum Alten, die Entwicklung neuer Merkmale, ihre quantitative Anreicherung, qualitative Transformationen und die kontinuierliche Auflösung aufkommender semantischer Widersprüche begleitet wird.
Der Verstehensprozess besteht nicht nur darin, Wissen zu übernehmen, das von anderen Menschen oder Epochen bereits erarbeitet wurde, sondern auch darin, auf der Grundlage komplexer Transformationen prinzipiell neues Wissen zu konstruieren, das zuvor nicht existierte. In solchen Fällen hat das Verstehen einen kreativen Charakter und stellt einen Übergang vom intuitiven Denken zur rationalen Erkenntnis dar. Genau so geschah zum Beispiel die Entwicklung der Begriffe “Quark“ und “Supersymmetrie“ in der modernen Physik.