Die Gesellschaft - Grundbegriffe und methodologische Ansätze - Gesellschaft, Geschichte und Kultur

Ein Leitfaden zur Philosophie: Ein Blick auf Schlüsselkonzepte und Ideen - 2024

Die Gesellschaft

Grundbegriffe und methodologische Ansätze

Gesellschaft, Geschichte und Kultur

Die Gesellschaft im Unterschied zum Sozium

Im weitesten Sinne wird die Gesellschaft, wie sie in der Sozialphilosophie untersucht wird, als das Soziale im Allgemeinen begriffen, als Sozium oder als eine besondere Seinsweise in der Welt. Die Philosophie strebt in ihrer Analyse des Sozialen danach, eine Systematik jener Merkmale zu etablieren, die jedes Phänomen des gesellschaftlichen Lebens von Erscheinungen der belebten und unbelebten Natur unterscheiden.

Es gibt jedoch auch eine andere Bedeutung des Begriffs “Gesellschaft“, in der er nicht mehr synonym mit dem Sozialen verwendet wird, sondern spezifische, klar definierte Formen des Bestehens sozialer Phänomene bezeichnet. So lässt sich feststellen, dass jede Gesellschaft sozial ist, aber nicht alles, was soziale Eigenschaften besitzt, als Gesellschaft gelten kann. Vielmehr handelt es sich hierbei oft lediglich um Teile, Eigenschaften oder Zustände der Gesellschaft in ihrem engeren Sinne.

Wir stehen vor der Wahl zwischen verschiedenen Ansätzen zur Deutung der Gesellschaft: einem subjektorientierten Ansatz, der die Gesellschaft als eine besondere, selbsttätige Gemeinschaft von Menschen auffasst; einem handlungsorientierten Ansatz, der Gesellschaft weniger als die Gemeinschaft selbst denn als den Prozess des kollektiven Lebens begreift; und einem organisationsorientierten Ansatz, der Gesellschaft als institutionelles System stabiler Verbindungen zwischen interagierenden Menschen und sozialen Gruppen versteht.

Die Philosophie kann ihre Aufgabe nicht erfüllen, wenn sie sich auf eine abstrakte Analyse des Sozialen beschränkt und die eigentliche Gesellschaft außer Acht lässt. Sie muss sich mit den universellen, historisch übergreifenden Formen und Strukturen menschlicher Gemeinschaften befassen, die diesen Namen verdienen. Der Grund dafür liegt darin, dass die Analyse der Gesellschaft als Teilsystem der Welt, als eine besondere Seinsweise innerhalb dieser, unvollständig bleibt, wenn das Soziale losgelöst von den Formen und Mechanismen seines realen Daseins betrachtet wird. Mit anderen Worten, die Frage “Was ist das Sozium?“ kann nicht beantwortet werden, ohne die reale Art und Weise seines Bestehens in der Welt zu durchdringen. Von der Feststellung der Eigenschaften, die Gesellschaft von “Nichtgesellschaft“ unterscheiden, müssen wir übergehen zur Untersuchung der realen Bedingungen für das Entstehen, Funktionieren und die Entwicklung des Sozialen sowie der Faktoren, die sein tatsächliches Dasein ermöglichen.

Die systemische Perspektive auf die Gesellschaft

Die Sozialphilosophie betrachtet das Phänomen der menschlichen Gesellschaft als ein komplex organisiertes, systemisches Objekt und greift dabei auf allgemeine wissenschaftliche Methoden zur Analyse solcher Objekte zurück.

Das erste und einfachste Merkmal eines systemischen Objekts ist seine qualitative Bestimmtheit, seine Abgrenzung gegenüber der “Umwelt seines Daseins“ und die Fähigkeit, ein autonomes, in sich identisches Phänomen zu sein, das sich von anderen Erscheinungen der Welt unterscheidet. Diese qualitative Abgrenzung allein reicht jedoch nicht aus, um die Systemhaftigkeit eines Objekts zu bestimmen. Daher gilt die Heterogenität seiner Struktur als ein weiteres wesentliches Merkmal eines Systems. Dies bedeutet, dass ein System ein Objekt ist, das sich gegenüber seiner Umwelt abhebt und zugleich aus einer Vielzahl autonomer, auch untereinander abgegrenzter Teile besteht.

Nicht jedes “komplex zusammengesetzte“ Phänomen ist jedoch notwendigerweise ein System. Es kann auch in vorsystemische Formen der Integration fallen und lediglich eine unsystematische Ansammlung seiner Teile darstellen. Ein System besteht aus wechselseitig verbundenen Teilen, die sich gegenseitig und das Ganze bedingen. So beeinflusst eine Veränderung der Herzfunktion den Zustand aller anderen Teile des menschlichen Organismus, und selbst eine kleine Schramme am Bein eines antiken Stuhls kann seinen Gesamtwert erheblich mindern. Diese Wechselwirkung zwischen Teilen und Ganzem zeigt sich in den spezifischen integralen Eigenschaften eines Systems.

Ein einfaches Beispiel für systemische Ganzheit liefert die Wassermolekülstruktur, die aus zwei Wasserstoffatomen und einem Sauerstoffatom besteht. Es ist allgemein bekannt, dass Wasser Feuer löschen kann. Doch könnte man dasselbe mit Wasserstoff oder Sauerstoff erreichen, wenn diese separat vorliegen? Die negative Antwort führt uns zu der Erkenntnis, dass Wasser, als Verbindung zweier Gase, Eigenschaften erlangt, die den einzelnen Bestandteilen fehlen: Es löscht Feuer, ist flüssig im Gegensatz zu den gasförmigen Ausgangsstoffen und so weiter.

Dieser Umstand zeigt, dass systemische Ganzheit nicht auf die Summe ihrer Teile reduzierbar ist. Das Ganze erweist sich als “mehr“ als seine Bestandteile — mehr um jene integralen Eigenschaften, die dem Ganzen eigen sind, aber den Teilen fehlen. Ein solches Ganzes muss daher als System untersucht werden, da die Summe unseres Wissens über Wasserstoff und Sauerstoff nicht ausreicht, um das Wasser als eigenständige chemische Verbindung zu verstehen.

Ein System definieren wir daher als jedes Phänomen, das sich gegenüber anderen Phänomenen abhebt, aus miteinander verbundenen Teilen besteht und integrale Eigenschaften besitzt, die in den isolierten Teilen nicht vorkommen.

Diese Merkmale treffen auch auf die menschliche Gesellschaft zu, die nicht nur ein System ist, sondern ein System des höchsten “organischen“ Typs. Die Gesellschaft umfasst eine Vielzahl qualitativ unterschiedlicher Phänomene und weist zugleich Gesetze auf, die sich nicht auf die Summe der isolierten Gesetze ökonomischen, politischen, rechtlichen oder ästhetischen Lebens reduzieren lassen.

Dies bedeutet, dass ein mechanisches Zusammenfügen von Erkenntnissen aus Politikwissenschaft, Kunstwissenschaft und anderen Spezialdisziplinen uns kein hinreichendes Wissen über die Gesellschaft vermittelt. Um das gemeinsame Leben der Menschen in seiner ganzen realen Komplexität zu verstehen, müssen wir es als systemisches Ganzes betrachten, das sich aus bestimmten Teilen zusammensetzt, aber nicht auf diese reduzierbar ist.

Aspekte einer systemischen Betrachtung der Gesellschaft

Wie kann die angestrebte Zielsetzung erreicht werden, nämlich die Gesellschaft als ein komplexes systemisches Objekt zu verstehen?

Die erste Frage, die sich die Philosophie stellen muss, wenn sie die Gesellschaft als Ganzes analysiert, lautet: Aus welchen “Bausteinen“ setzt sie sich zusammen? Seit jeher war den Menschen bewusst, dass das gesellschaftliche Leben in einzelne, voneinander unterscheidbare Bereiche gegliedert ist — Verwaltung, Staat, Handel, Landwirtschaft und Handwerk, Kunst, Religion und vieles mehr. Jeder dieser Bereiche wird üblicherweise von spezifischen Gruppen von Fachleuten gestaltet, folgt eigenen Gesetzmäßigkeiten und bedient sich spezifischer technischer Mittel. Die Aufgabe des Theoretikers besteht darin, diese Einsichten zu systematisieren und zu verallgemeinern.

Wie bei der philosophischen Analyse der Welt beginnt auch die philosophische Analyse der Gesellschaft mit der Untersuchung ihrer Struktur, genauer gesagt mit der Ermittlung der Bestandteile, aus denen sie besteht. Es gilt zu begreifen, wie die Bedürfnisse und Handlungen der Menschen miteinander verbunden sind, ob es in der Gesellschaft tatsächlich einen Zusammenhang zwischen der Religiosität der Bevölkerung und dem Zustand der öffentlichen Moral gibt, und ob die Politik tatsächlich als konzentrierter Ausdruck der Ökonomie zu betrachten ist. Entspricht der von Karl Marx vorgeschlagene “Gesetz der bestimmenden Rolle der materiellen Produktion“ der Realität, wonach alle bedeutenden Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens — bis hin zu den moralischen, religiösen und ästhetischen Anschauungen der Menschen — letztlich durch das Zusammenspiel von “Produktivkräften und Produktionsverhältnissen“ bestimmt werden? Oder haben jene recht, die behaupten, dass die Geschichte der Menschen stets die Geschichte von Ideen sei, selbst dann, wenn sie als Geschichte der Entwicklung der gesellschaftlichen Produktivkräfte erscheint?

Der Übergang von der Erstellung eines “Verzeichnisses“ der Elemente, Komponenten und Teilsysteme der Gesellschaft hin zur Untersuchung ihrer gegenseitigen Verknüpfung wird in der modernen Literatur als Übergang von der Analyse der Struktur der Gesellschaft zur Analyse ihrer Funktionsweise interpretiert. Dabei wird die Analyse der Struktur als strukturelle Untersuchung bezeichnet und von der funktionalen Analyse des sozialen Systems unterschieden.

Doch so bedeutend die strukturelle und funktionale Untersuchung der Gesellschaft auch sein mögen, sie erschöpfen nicht alle Aufgaben einer systemischen Betrachtung. Die Gesellschaft gehört zu den sich selbst entwickelnden Systemen, die, obwohl sie ihre qualitative Bestimmtheit bewahren, diese in ihrem Zustand grundlegend verändern können. Die Sozialphilosophie muss verstehen, wer unter welchen Bedingungen bedeutende soziale Veränderungen herbeiführt, welche Rolle und welche Möglichkeiten einzelnen Persönlichkeiten im Entwicklungsprozess der Gesellschaft zukommen, unter welchen Voraussetzungen diese Entwicklung friedlich und evolutionär verläuft und wann sie in gewaltsamen Revolutionen münden kann. Solche Fragen zu untersuchen bedeutet, die Gesellschaft aus der dynamischen Perspektive ihres Bestehens zu betrachten und die Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung zu analysieren, ohne jedoch die Geschichte selbst, die einen eigenständigen Gegenstand des philosophischen Interesses bildet, vollständig in den Hintergrund treten zu lassen.

Die Sozialphilosophie, die nach dem Wesen des Sozialen als einer Daseinsweise in der Welt fragt, ist somit gezwungen, sich den allgemeinen Bedingungen und Mechanismen seines realen Bestehens zuzuwenden und die Gesellschaft im engeren Sinne des Wortes als eine organisatorische Form des Sozialen zu betrachten, die zur Selbsterhaltung fähig ist. Die Gesellschaft wird als ein komplexes System kollektiven Menschseins verstanden und in drei miteinander verbundenen Aspekten untersucht: dem strukturellen, dem funktionalen und dem dynamischen.

Eine systemische Analyse der gesellschaftlichen Organisation kann jedoch nur dann vollständig sein, wenn die Betrachtung der verschiedenen Aspekte der menschlichen Gesellschaft durch eine Betrachtung ihrer verschiedenen Ebenen ergänzt wird.

Ebenen der systemischen Betrachtung der Gesellschaft

Die Gesellschaft besitzt eine eigene Existenzweise, welche die Bedingungen voraussetzt, unter denen die abstrakte theoretische Möglichkeit einer Gesellschaft Wirklichkeit wird. Diese Bedingung ist die reale menschliche Geschichte, ohne die es keine Gesellschaft geben kann und die ihrerseits untrennbar mit ihr verbunden ist.

Ein systemischer Gesellschaftsanalyse gliedert sich in mehrere relativ autonome Ebenen, die sich ergänzen, jedoch nicht gegenseitig ersetzen.

Bereits wurde der abstrakteste Ansatzpunkt thematisiert: die philosophische Analyse der allgemeinen und invarianten Eigenschaften gesellschaftlicher Organisation, welche deren generische, historisch konstante Essenz ausdrücken. Diese Konstanz erlaubt es uns, sowohl primitive Stammesverbände als auch moderne technokratische Staaten mit demselben Begriff — “Gesellschaft“ — zu bezeichnen. Dabei ist zu beachten, dass dieser Zugang eine der zentralen Erkenntnisebenen des Sozialen darstellt. Es wäre ein schwerwiegender Irrtum, würde die Wissenschaft, nachdem sie die reale Existenz konkreter menschlicher Gesellschaften anerkannt hat, daraus schließen, dass “die Gesellschaft an sich“, die keine greifbare körperliche Existenz aufweist, nichts weiter als eine Fiktion sei — ein leeres Gedankenspiel.

Ein aufmerksamer Forscher, der konkrete Gesellschaften miteinander vergleicht — von hochentwickelten Zivilisationen, die den Weltraum erschließen, bis hin zu primitiven Stämmen ohne Geld und Zahlen — wird zahlreiche wesentliche Gemeinsamkeiten erkennen. Sowohl im alten Ägypten als auch im modernen England beschäftigen sich Menschen im Kern mit denselben Tätigkeiten: Sie wirtschaften, ringen um Macht, erlassen Gesetze, erziehen Kinder, unterhalten sich, beten zu Gott oder Göttern, treiben Wissenschaft, schaffen Kunst, sichern die öffentliche Ordnung oder führen diplomatische Verhandlungen. Natürlich zeigen sich Unterschiede: Religiöses Verhalten äußert sich in einem Fall als rituelle Opferdarbringung, im anderen als feierlicher Gottesdienst. Unterhaltung reicht von Gladiatorenkämpfen bis zu Discotheken oder Kinovorführungen, und die militärische Technik variiert von Streitwagen bis hin zu Stealth-Bombern.

Dennoch besitzen alle Gesellschaften eine vergleichbare “Skelettstruktur“ und eine ähnliche “Physiologie“. In ihnen reproduzieren sich vergleichbare Strukturen menschlicher Tätigkeiten, Systeme der Vermittlung zwischen notwendigen Handlungsformen, funktional ähnliche Institutionen sozialer Organisation, analoge Anreize sozialen Verhaltens sowie gemeinsame Impulse zur Selbstentwicklung. Durch die Herausarbeitung dieser strukturellen, funktionalen und dynamischen Invarianten erstellen Wissenschaftler ein logisches Modell der “Gesellschaft an sich“, das für die Gesellschaftswissenschaft ebenso nützlich ist wie die Konzepte von Anatomie und Physiologie des “Menschen an sich“ für die Medizin, die Franzosen, Japaner und Eskimos gleichermaßen zu behandeln vermag.

Ein rein auf die generischen Bestimmungen der Gesellschaft beschränkter Ansatz birgt jedoch die Gefahr, die reale Vielfalt ihrer Formen zu vernachlässigen. Ein solcher Zugang, der auf ewig gültige und unveränderliche Gesetze gesellschaftlicher Organisation setzt, führt zu den schlimmsten Auswüchsen spekulativen Apriorismus, der versucht, die gesamte historische Vielfalt unter arbiträr geschaffene und fragwürdige makroabstrakte Modelle zu subsumieren.

Die Analyse der Gesellschaft als Gesamtsystem bleibt jedoch nicht auf die abstrakteste Ebene der universellen Eigenschaften der “Gesellschaft an sich“ beschränkt. Vielmehr umfasst und verbindet sie weit konkretere Objekte: jene sozialen Organismen — Länder und Völker —, die in der menschlichen Geschichte reale Verkörperungen der Gesellschaft darstellen, indem sie die generischen Merkmale des Sozialen mit den Mechanismen seiner ständigen Reproduktion in Raum und Zeit verbinden.

Die Sozialwissenschaft kann sich nicht allein auf allgemeine Definitionen von Eigentum und Macht, sozialer Schichtung und politischer Ordnung, Recht und Moral beschränken. So notwendig das Wissen um allgemeine Gesetze der sozialen Organisation auch ist, es vermag uns nicht die historischen Schicksale einzelner menschlicher Gesellschaften zu erklären. Allein auf solche Gesetze gestützt werden wir weder die Ursachen der Oktoberrevolution von 1917 in Russland verstehen noch jene Besonderheiten des amerikanischen Lebens, die die USA gegenüber revolutionären Ideen weniger empfänglich machten und dem Marxismus keine festen Wurzeln schlagen ließen.

Für die Wissenschaft ist sowohl der systemische Blick auf die “Gesellschaft an sich“, der eine korrekte methodologische Orientierung bietet, als auch der systemische Analyse konkreter sozialer Organismen, der die spezifische Funktionsweise und Entwicklung dieser Gesellschaften aufzeigt, gleichermaßen unverzichtbar.

Es ist jedoch wichtig zu begreifen, dass diese beiden Analyseebenen nicht ausreichen, um die Gesellschaft in der realen historischen Dynamik ihres Daseins umfassend zu erfassen. Zwischen der höchsten Ebene sozialphilosophischer Abstraktion und der Analyse konkreter sozialer Organismen verorten sich notwendigerweise Theorien mittlerer Generalisierung. Diese untersuchen weder “die Gesellschaft an sich“ noch spezifische Länder und Völker, sondern bestimmte Typen gesellschaftlicher Organisation, die in der realen menschlichen Geschichte auftreten. Dabei handelt es sich um logische Modelle, die weder universelle noch einzigartige, sondern spezifische Eigenschaften gesellschaftlicher Strukturen fixieren, die Gruppen soziokulturell verwandter Gesellschaften gemeinsam sind.

Die Einteilung solcher Gruppen durch Wissenschaftler erfolgt auf unterschiedlichen Grundlagen, je nachdem, welche Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens als zentral und prägend für wesentliche Gemeinsamkeiten in der Lebensweise verschiedener Völker angesehen werden. Doch ist der Prozess der historischen Typologisierung von Gesellschaften eine unverzichtbare Voraussetzung für deren vollständige wissenschaftliche Erkenntnis.

Auf dieser Erkenntnisebene stellt die Wissenschaft die Frage nach der Existenz eines spezifischen, in der Geschichte verankerten Sklavenhalter-Systems der gesellschaftlichen Organisation. Sie untersucht die strukturprägenden Prinzipien und “übernationalen“ Besonderheiten dieses Systems, das in zahlreichen Ländern der Welt die archaische stammesbasierte Gesellschaftsorganisation abgelöst hat. Ebenso wird auf dieser Ebene das fundamentale Problem des feudalen Gesellschaftstyps behandelt: die Eigenheiten seiner Struktur, seiner Funktionsweise und seiner Entwicklung, die konkreten Formen seines historischen Daseins sowie seine stufen- und regionsspezifischen Unterschiede — sei es der Vasallentum in den Ländern Westeuropas oder die Leibeigenschaft in Russland.

Schließlich ist es gerade die historisch-typologische Ebene der Analyse, die Antworten auf die heute besonders dringlichen Fragen zur Natur des “Kapitalismus“ liefern soll. Liegt seinem Wesen ein besonderer “Geist“ zugrunde, der die Produktion rationalisiert und auf einer “Gewinnerwartung durch die Nutzung von Austauschmöglichkeiten, also friedlichem Erwerb“ basiert, wie Max Weber in seiner Schrift Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1905) darlegte? Oder beruht dieses System vielmehr auf Ausbeutungsverhältnissen, in denen sich die Eigentümer der Produktionsmittel die Arbeitsergebnisse der Lohnarbeiter aneignen, wie Karl Marx und seine Anhänger behaupteten? Ist diese Ordnung die “Norm“ der Organisation moderner Gesellschaften, oder hat sie historische Grenzen ihres Bestehens? Ist der Sozialismus als alternative Gesellschaftsform realisierbar, und können Gesellschaften “sowjetischen Typs“, die vor unseren Augen zerfallen sind, überhaupt als sozialistisch bezeichnet werden?

Es zeigt sich also, dass die Untersuchung der Gesellschaft als ganzheitliches System sich nicht auf die Erforschung allgemeiner Gesetze ihres Aufbaus, ihrer Funktionsweise und ihrer Entwicklung reduzieren lässt. Vielmehr erfordert sie die Analyse spezifischer Besonderheiten systemischer Organisation — sowohl historisch konkreter Typen sozialer Organisation als auch real existierender menschlicher Gesellschaften, jener konkreten sozialen Organismen.

Die Erkenntnis dieses Sachverhalts erschwert die Frage nach dem Gegenstand der Sozialphilosophie erheblich und stellt uns vor das Problem ihres Verhältnisses zu anderen Wissenschaften, die ebenfalls zur systematischen Untersuchung der Gesellschaft befähigt sind. Insbesondere sind hier die Soziologie und die Geschichtswissenschaft zu nennen, deren Beziehung zur Sozialphilosophie einer besonderen Betrachtung bedarf.

Zum Gegenstand der theoretischen Soziologie

A. Sorokin vertrat die Ansicht, dass die Vielzahl der Perspektiven auf den Gegenstand der Soziologie in drei Hauptgruppen eingeteilt werden kann: erstens die Auffassung, die Soziologie sei lediglich ein Corpus sozialwissenschaftlicher Disziplinen, also ein Begriff, der die Gesamtheit aller Wissenschaften umfasst, die sich mit sozialen Phänomenen befassen; zweitens die Ansicht, dass die Soziologie ein bestimmtes Gebiet sozialen Seins untersucht, das von keiner anderen Wissenschaft behandelt wird; und drittens die Überzeugung, dass Soziologie eine eigenständige Wissenschaft sei, die die allgemeinsten und grundlegendsten Eigenschaften des menschlichen Zusammenwirkens erforsche.

Die erste von Sorokin benannte Sichtweise findet in der modernen Sozialwissenschaft kaum noch Unterstützung. Immer weniger Wissenschaftler glauben, dass die Soziologie keinen eigenständigen Forschungsgegenstand besitzt und als Wissenschaft ebenso künstlich sei wie ihr Name, dessen eine Hälfte lateinischen, die andere griechischen Ursprungs ist.

Ein letzter Nachklang dieser Perspektive findet sich bei jenen, die zwar die Nützlichkeit der Soziologie anerkennen, ihr jedoch den Status theoretischen Wissens absprechen. Überspitzt formuliert, neigen diese dazu, die Soziologie auf eine Sammlung von Methoden zu reduzieren, die es ermöglichen, Fragebögen zu erstellen, Befragungen durchzuführen und deren Ergebnisse zu interpretieren, ohne den Vorwurf der Voreingenommenheit zu riskieren.

Die zweite und dritte Perspektive hingegen behalten ihre Relevanz und stehen bis heute in lebhaftem Austausch.

Die Vertreter der zweiten Sichtweise sehen die Soziologie als eine Spezialwissenschaft, vergleichbar etwa mit der Politikwissenschaft oder Kunstwissenschaft. Sie weisen ihr, in den Worten Sorokins, “ein eigenes, von anderen Disziplinen nicht bearbeitetes Feld“ zu. In der Regel betrachten sie die Soziologie als Wissenschaft von sozialen Phänomenen, wobei der Begriff “sozial“ hier nicht als Synonym für “gesellschaftlich“ verwendet wird, sondern spezifische Prozesse des gesellschaftlichen Lebens bezeichnet, die neben den ökonomischen, politischen und geistigen Prozessen bestehen.

Die dritte Sichtweise, wie Sorokin sie formulierte, lehnt die Reduktion der Soziologie auf eine Spezialwissenschaft sozialer Gruppen und Organisationen entschieden ab. Eine solche Reduktion würde, so Sorokin, “im besten Fall eine zusätzliche Spezialwissenschaft schaffen“, während die Soziologie alle Voraussetzungen mitbringe, den Status einer “generalisierenden“ Disziplin zu erreichen. Diese würde nicht einzelne gesellschaftliche Bereiche erforschen, sondern das gesellschaftliche Leben in seiner Gesamtheit und im systemischen Zusammenhang all seiner Komponenten, einschließlich der Wechselbeziehung zwischen der “tätigkeitsbezogenen“ und der “subjektbezogenen“ Logik seines Vollzugs.

In diesem Verständnis nähert sich die Soziologie der sozialen Philosophie an, die das Soziale nicht nur in seinem Wesen untersucht, sondern auch in den allgemeinen Bedingungen und Mechanismen seines realen Daseins.

Tatsächlich finden wir in den Werken vieler Wissenschaftler, die sich selbst als Soziologen bezeichneten — M. Weber, É. Durkheim, G. Simmel, P. A. Sorokin und andere —, zahlreiche Themen, die traditionell dem Gegenstandsbereich der Sozialphilosophie zugeordnet werden. Dies schließt die Bestimmung des Sozialen als “Seinsart“ in der uns umgebenden Welt ein. Umgekehrt begegnen wir in Werken wie Hegels Philosophie der Geschichte, Comtes Kurs der positiven Philosophie, Marx’ Ökonomisch-philosophische Manuskripte, Sartres Kritik der dialektischen Vernunft, Arons Einführung in die Philosophie der Geschichte sowie in den Schriften K. Poppers, E. Fromms und J. Habermas Themen, die typischerweise der allgemeinen theoretischen Soziologie zugeordnet werden.

Es stellt sich die Frage, wie dieses Zusammenfließen zweier unterschiedlicher Wissenschaften über die Gesellschaft zu bewerten ist. Zeugt es von grundlegenden Fehlern in der Definition ihrer Gegenstände, oder handelt es sich um ein für die Wissenschaft normales, problemorientiertes Überschneiden von Disziplinen, die nicht durch unüberwindbare Grenzen voneinander getrennt sind?

Die Antworten der Wissenschaftler auf diese Frage fallen unterschiedlich aus. Einige bestehen auf einer klaren Trennung zwischen Sozialphilosophie und theoretischer Soziologie. Diese Haltung teilen insbesondere die Verfechter einer “wertenden“ Philosophie, die jede Nähe zur Wissenschaft als anstößig empfinden und der Soziologie gerne die Aufgabe überlassen, die reflektierende, wissenschaftliche Erforschung von Gesellschaft und Geschichte zu übernehmen.

Andere Denker sahen in der Nähe von Philosophie und Soziologie kein Problem. So vertrat Sorokin in seiner späten Schaffensphase die Auffassung, dass jede ernsthafte Soziologie philosophisch sei und jede nicht spekulative Philosophie der Gesellschaft notwendigerweise soziologisches Material und soziologische Ansätze umfasse. Dabei geschehe dies nicht nach dem Prinzip einer “Ziegelmauer“, sondern nach Art eines lebendigen Organismus, der Stoffe aus der äußeren Natur assimiliert und in seinen “eigenen Körper“ verwandelt.

Eine ähnliche Position vertritt der französische Soziologe R. Aron. In seiner Begründung für die Auswahl von sieben Gründervätern der Soziologie — C. L. Montesquieu, A. Comte, K. Marx, A. de Tocqueville, É. Durkheim, V. Pareto und M. Weber — schrieb Aron, es handele sich um eine Form von Sozialphilosophie neuen Typs, eine wissenschaftliche Denkweise, die durch eine besondere Sichtweise auf das Soziale geprägt sei und sich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts verbreitet habe.

In Übereinstimmung mit dieser Sichtweise gehen wir von der Idee aus, dass das Überschneiden der Gegenstände von Philosophie und allgemeiner Soziologie den “binären“ Charakter des philosophisch-soziologischen Wissens über die Gesellschaft hervorbringt. Dies bedeutet, dass Philosophie und Soziologie in ihrem Streben, die Gesellschaft als systemisches Ganzes zu begreifen, vereint sind — als ein integrales Ganzes, das sich nicht auf die Summe seiner Teile reduzieren lässt. Ein solcher Ansatz unterscheidet die philosophisch-soziologische Erkenntnis von den Einzelwissenschaften, die jeweils nur Teilbereiche des Ganzen in ihrer relativen Eigenständigkeit und inneren Logik erforschen.

Doch der einheitliche Ansatz, das Gesellschaftliche als System zu betrachten, bedeutet keineswegs eine faktische Identität zwischen Sozialphilosophie und Soziologie. Wäre dies der Fall, so wäre die Unterscheidung ihrer Begriffe hinfällig, und die Existenz zweier verschiedener Bezeichnungen für ein und dieselbe Wissenschaft überflüssig. Der Unterschied zwischen dem philosophischen und dem soziologischen Zugang zur Gesellschaft zeigt sich am deutlichsten in ihren unterschiedlichen Ebenen der Betrachtung.

Wie bereits erörtert, analysiert die Wissenschaft die Gesellschaft systematisch nicht nur in drei miteinander verbundenen Dimensionen — der strukturellen, funktionalen und dynamischen —, sondern auch auf drei miteinander verknüpften Abstraktionsebenen: der Ebene der universellen Eigenschaften sozialer Organisation, der Ebene historisch spezifischer Typen und schließlich der Ebene einzelner Gesellschaften — konkreter Länder und Völker. Es wäre jedoch falsch anzunehmen, dass alle diese Ebenen gleichermaßen der Sozialphilosophie zuzurechnen sind. Tatsächlich konzentriert sich deren Gegenstand auf die Analyse der universellen Eigenschaften, Beziehungen und Zustände der Gesellschaft und bewegt sich somit primär auf der Ebene der Betrachtung des “Gesellschaftlichen an sich“, das essenziell für das Verständnis seines Wesens ist.

Indem sie das “Gesellschaftliche an sich“ untersucht, kann die Sozialphilosophie nicht umhin, sich auch mit den historisch konkreten Formen seiner Organisation und den spezifischen sozialen Organismen — den Ländern und Völkern — auseinanderzusetzen. Diese Auseinandersetzung ermöglicht es, universelle, historisch invariant geltende Gesetze der Struktur, Funktion und Entwicklung sozialer Systeme zu formulieren oder gegebenenfalls ihre Existenz — wie es einige Theoretiker tun — zu verwerfen. Dennoch bleibt der thematische Fokus der Sozialphilosophie nicht auf diese mehrdimensionale Analyse der menschlichen Gesellschaft beschränkt, die in Kooperation mit der soziologischen Wissenschaft durchgeführt wird. Parallel zu und in Verbindung mit der Untersuchung der Gesellschaft in ihren unterschiedlichen Ebenen richtet sich die Sozialphilosophie auch auf die Geschichte, die als ein relativ eigenständiger, vom Gesellschaftlichen nicht vollständig deckungsgleicher Untersuchungsgegenstand erscheint. In dieser Hinwendung wandelt sich der thematische Schwerpunkt der Sozialphilosophie, indem sie sich von der Philosophie der Gesellschaft zur Philosophie der Geschichte entwickelt.

Doch was ist Geschichte? Wie lässt sich dieser Begriff mit den bereits diskutierten Schlüsselkonzepten der Sozialphilosophie — wie Gesellschaft und Sozium — in Beziehung setzen? Welche Aspekte der Geschichte sind für Philosophen von Interesse, und wie verhält sich ihr Untersuchungsgegenstand zu jenem der professionellen Historiker? Lassen Sie uns diese Fragen kurz beleuchten.